WoW 02 - Der letzte Wächter
einem Deckel versehene Schüssel stand auf einem kunstvoll verzierten Tisch. Selbst in der Tür stehend konnte Khadgar die Suppe riechen, die sich in dem Gefäß befand.
»Was mache ich, wenn ich die Nachricht entschlüsselt habe?«, fragte er.
»Genau!«, antwortete Medivh, als habe er eine wichtige Erkenntnis gewonnen. »Verzögerung. Verzögern ist vor allem anderen geboten. In ein oder zwei Tagen sollte ich mich wieder selbst darum kümmern können. Lass dir etwas einfallen, um sie zu vertrösten. Ich bin geschäftlich unterwegs, werde bald zurückkehren. Benutze die gleiche Verschlüsselung, aber achte darauf, dass du sie als Datum kennzeichnest. Wenn alles andere scheitert, delegiere. Sage dem Briefschreiber, wer auch immer es sein mag, er möge nach eigenem Gutdünken handeln und dass ich ihm so bald wie möglich helfen werde. Das gefällt ihnen immer. Sage
nicht
, dass es mir nicht gut geht – das letzte Mal, als ich diesen Fehler beging, tauchte eine ganze Horde von Möchtegern-Klerikern auf, um sich um meine Bedürfnisse zu kümmern. Einige silberne Löffel sind seit diesem Besuch nie wieder aufgetaucht.«
Der alte Magier holte tief Luft und stützte sich schwer am Türrahmen ab. Moroes bewegte sich nicht, aber Khadgar trat einen Schritt vor.
»Der Kampf gegen den Dämon …«, sagte er. »Es war schlimm, oder?«
»Es gab Schlimmere. Dämonen! Krummschultrige, hammelköpfige Schläger. Zu gleichen Teilen Schatten und Feuer. Mehr Bestie als Mensch und widerwärtiger als beide. Gefährliche Krallen. Auf die Krallen muss man aufpassen.« Khadgar nickte. »Wie habt Ihr ihn besiegt?«
»Die Lebensessenz wird normalerweise durch schwere Verletzungen vernichtet«, sagte Medivh. »In diesem Fall habe ich ihm den Kopf abgeschlagen.« Khadgar blinzelte. »Ihr hattet kein Schwert.« Medivh lächelte schwach. »Sagte ich, dass ich ein Schwert brauche? Genug. Weitere Fragen, sobald es mir besser geht.« Mit diesen Worten betrat er das Zimmer, und der ewig loyale Moroes schloss vor Khadgar die Tür. Das letzte Geräusch, das der junge Magier hörte, war das erschöpfte Stöhnen des alten Mannes, der sich endlich ausruhen konnte.
Eine Woche verging, doch Medivh war nicht wieder aus seinem Quartier heraus gekommen. Jeden Tag schlurfte Moroes mit einer Schüssel voll Suppe nach oben. Schließlich hatte Khadgar genügend Mut gesammelt, um selbst nach Medivh zu sehen. Der Verwalter protestierte nicht, reagierte auf seine Gegenwart nur mit einem knappen Grunzen.
Medivh sah aus wie ein Geist. Hinter seinen geschlossenen Lidern war kein Leben, und sein Gesicht wirkte völlig regungslos. Er trug ein langes Nachthemd und wurde von Kissen gestützt. Sein Mund war offen, die Haut blass. Sein Körper wirkte ausgemergelt und dünn. Moroes fütterte ihn mit einem Löffel. Medivh schluckte, ohne zu erwachen. Der Verwalter wechselte jeden Abend das Bettzeug, bevor er sich zur Nachtruhe zurückzog.
Khadgar dachte darüber nach, ob es in Medivhs Jugend genauso gewesen war, damals, als seine Macht erstmals auftrat und Lothar sich um ihn kümmerte. Er fragte sich, wie lange der Magus in diesem Zustand verharren würde, und wie viel Energie er tatsächlich beim Kampf gegen den Dämon verloren hatte.
Normale Nachrichten, die in lesbarer Schrift und klarer Sprache verfasst waren, trafen ein. Einige wurden von Greifenreitern übermittelt, andere zu Pferde, doch die meisten kamen mit den Versorgungswagen der Händler, die Moroes' Vorratskeller füllen wollten. Ihr Inhalt war meist unspektakulär – Schiffsbewegungen und Truppenübungen. Bereitschaftsberichte. Gelegentliche Ausgrabungen uralter Gräber oder vergessener Artefakte oder Entdeckungen vergessener Legenden. Berichte über Wasserhosen, große Meeresschildkröten oder eine Springflut. Zeichnungen von Tieren, die dem Beobachter unbekannt waren, aber bereits in den Lexika vermerkt, die sich in der Bibliothek befanden.
Auch Orcs wurden immer häufiger erwähnt, vor allem im Osten rund um den Schwarzen Morast tauchten sie auf. Die Bewachung der Karawanen wurde verstärkt, es gab Berichte über Orc-Lager, Überfälle und unter mysteriösen Umständen Verschwundene. Immer mehr Flüchtlinge suchten den Schutz der mit Mauern gesicherten Orte und Städte. Überlebende fertigten Zeichnungen der Wesen mit breiten Augenbrauen und kräftigen Kiefern an. Darunter waren auch detaillierte Darstellungen der Muskeln, die, wie Khadgar schaudernd begriff, bei der Obduktion eines solchen
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