Wunder wie diese
Motivation dafür zu nehmen, es ihr gleichzutun und endlich die Kurve zu kratzen.
Dieses Abends-mit-Mum-ein-Glas-Wein-trinken ist neu. Meiner Meinung nach gab es mehrere Faktoren, die dazu geführt haben. Erstens bin ich wegen all der Hausarbeiten, die ich noch schreiben muss, abends meist zu Hause, während ich sonst immer im Pub war und erst nach Hause gekommen bin, als Mum schon schlafen gegangen war. Zweitens rückt unausgesprochen der Tag näher, an dem ich ausziehen werde, sodass wir beide abends am Küchentisch noch einmal ausgiebig die Gesellschaft des anderen genießen. Und drittens macht sich schleichend der Einfluss der Kleinen bemerkbar.
Meine Unterhaltungen mit Amelia haben in meinem Denken eine Veränderung bewirkt. Zum ersten Mal und verdächtig Amelia-geprägt, interessiere ich mich für Mums Lebenswelt und -erfahrungen. Ich erkundigte mich beispielsweise danach, wie sie den Übergang erlebt hat, nachdem die beiden geheiratet hatten. Und wie glücklich sie damals mit dem gemeinsamen Leben mit Dad war. Ich fragte sie, ob er die ganze Zeit gearbeitet hat, als Zoe und ich zur Welt kamen. Ob ihr während der Schwangerschaften übel war. Wie die Verteilung der Hausarbeiten zwischen ihr und Dad war. Inwieweit er sie dabei unterstützt hat. Wann sie danach wieder arbeiten gegangen ist. Wie sie es geschafft hat, den Job und zwei kleine Kinder unter einen Hut zu bringen. Und während ich sie das fragte, trifft es mich wie ein Schlag: Meinen Dad hätte ich so etwas nie gefragt. Genauso wenig wie sonst einen Kerl.
Eine der Geschichten, die Mum mir erzählte, ist mir ganz besonders in Erinnerung geblieben. Sie hatte noch unbezahlten Erziehungsurlaub von ihrer Arbeit als Grundschulbibliothekarin, da war ich gerade zwei und Zoe vier. Hin und wieder ist sie arbeiten gegangen, wenn ihre Schwester Zeit hatte, sich um mich zu kümmern, aber im Großen und Ganzen war sie zu Hause. Eines Tages erhielt sie ein kurzes förmliches Schreiben vom Bildungsministerium, in dem man ihr mitteilte, dass sie, falls sie nicht innerhalb desselben Monats wieder Vollzeit an ihren Arbeitsplatz zurückkehrte, sie diesen verlieren würde. Die nächste freie Stelle, auf die sie Anspruch hätte, konnte sonst wo in der Stadt sein. Scheiße, dachte Mum. Die Schule, in der sie bisher gearbeitet hatte, lag nicht weit entfernt – es wäre unpraktisch gewesen, die Stelle aufgeben zu müssen. Zoe ging bereits dreimal die Woche in den Kindergarten in der Nähe, und das sehr gern. Die Leiterin zeigte Verständnis in Anbetracht der Zwangslage und richtete für Zoe einen Platz für fünf Tage in der Woche ein; sie war also versorgt. Das Problem war ich. In Zoes Kindergarten nahmen sie Kinder erst ab drei auf. Mum wollte mich nur ungern fünf Tage in einer Krippe unterbringen, aber es gab keine andere Möglichkeit.
»Mein kleiner Mann«, sagte sie mit gequälter Stimme zu ihrem Rotwein trinkenden inzwischen erwachsenen Sohn. »Wir beide waren unzertrennlich. Wir verbrachten die meisten Tage nur zu zweit. Dad war ja arbeiten und Zoe im Kindergarten. Mein kleiner Mann.«
Sie klapperte die umliegenden Kindertagesstätten ab und erfuhr, wie schwierig es war, einen Zweijährigen fünfmal die Woche unterzubringen, und dazu noch innerhalb von drei Wochen. Einige konnten zwei, andere drei Tage die Woche anbieten, aber das half alles nichts. Sie fand dann schließlich eine städtische Krippe ein paar Vororte weiter. Sie konnten mich sofort aufnehmen. Es war ein düsterer Ort mit einer unseligen Atmosphäre, aber es blieb nichts anderes übrig.
Ich erinnere mich gut daran. Ich musste dort Spinat zu Mittag essen, und als es Zeit für den Mittagsschlaf war, legten sie uns in Gitterbetten, die so hoch waren, dass wir nicht alleine aufstehen konnten. Ich erinnere mich daran, dass ich ein paar Mal ins Bett gemacht habe, weil ich nicht rechtzeitig zur Toilette gekommen bin. Woran wir uns beide erinnern, ist, dass ich jeden Morgen, wenn sie mich dort ablieferte, nicht mehr aufhörte zu weinen und nicht wollte, dass sie mich dort alleine ließ. Ich rannte hinaus in den Vorgarten, drückte mich gegen den Maschendrahtzaun neben dem Eingang und heulte und schrie, sie solle zurückkommen.
Wenn sie mich nachmittags dort abholte, stand ich wie gebannt an derselben Stelle am Zaun. Immer noch weinend hielt ich nach ihr Ausschau. Meine Mum nannte es eines der schrecklichsten Dinge in ihrem Leben, mich dort abzugeben. Furchtbar, sagte sie. Und dein Vater konnte überhaupt
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