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Wut

Wut

Titel: Wut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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ohne Ziel, so frustriert, daß Neela Mahendra an seine Seite eilte und Solanka einfach stehenließ. Als er Neela kommen sah, ließ der junge Riese die Fahnenstange fallen, die ihn beim Fallen noch am Kopf traf. Er wankte, hielt sich aber, man muß es ihm hoch anrechnen, tapfer aufrecht.
    Neela war ganz Fürsorge, offensichtlich weil sie glaubte, wenn sie Babur mit ihrer Schönheit verwöhnte, könnte sie ihn für die lange, sinnlose Reise entschädigen. Babur begann tatsächlich zu strahlen, und nach ein paar Minuten sprach er mit Neela, als sei sie das zahlreiche und politisch wichtige Publikum, auf das er gehofft hatte. Er sprach von einem Rubikon, der überquert werde, forderte keine Kompromisse und keine Kapitulation. Jetzt, da die mühsam errungene Verfassung abgeschafft und die Teilnahme der Indo-Lillys an der Regierung von Lilliput-Blefuscu so beschämend beendet worden sei, sagte er, könnten nur noch extreme Maßnahmen helfen. »Rechte werden niemals von jenen verliehen, die sie haben«, behauptete er, »sondern von denen genommen, die sie brauchen.« Neelas Augen leuchteten auf. Sie erwähnte ihr Fernsehprojekt, und Babur nickte feierlich, weil er wohl meinte, daß sich noch etwas aus den Trümmern dieses Tages retten lasse. »Komm mit«, sagte er, ihren Arm ergreifend. (Solanka sah, wie selbstverständlich sie ihren Arm durch den ihres Landsmannes schob.) »Komm. Darüber müssen wir noch stundenlang diskutieren. Es gibt so vieles, das dringend getan werden muß.« Ohne einen Blick zurück verschwand Neela mit Babur.
    Auch bei Ladenschluß saß Solanka an jenem Abend noch unglücklich auf einer Bank auf dem Washington Square. Als ein Streifenwagen ihm befahl, den Platz zu verlassen, klingelte sein Handy. »Es tut mir wirklich leid, Schätzchen«, sagte Neela. »Er war so unglücklich, und es ist meine Arbeit, wir mußten wirklich reden. Außerdem brauche ich dir nichts zu erklären. Du bist ein kluger Mann. Ich bin sicher, daß du es dir schon gedacht hast. Du solltest Babur kennenlernen. Er ist so voller Leidenschaft, daß es fast unheimlich ist, und nach der Revolution wird er vielleicht sogar Präsident. Ach, kannst du mal dranbleiben, Schätzchen? Er ist am anderen Apparat.« Sie hatte von der Revolution als unvermeidlich gesprochen. Zutiefst beunruhigt dachte Solanka, der am Handy wartete, an ihre eigene Kriegserklärung. Wenn es sein muß, werde ich Schulter an Schulter mit ihnen kämpfen. Das meine ich ernst, ich werde es wirklich tun. Er betrachtete die Blutflecken, die auf dem dunkler werdenden Platz trockneten, hier in New York City Beweis für die Macht einer zunehmenden Wut auf der anderen Seite des Erdballs: einer Gruppenwut, geboren aus einer langen Ungerechtigkeit, neben der sein eigener, unberechenbarer Jähzorn von jämmerlicher Bedeutungslosigkeit und womöglich nur der Ausdruck eines privilegierten Individuums mit zu großem Ego war. Und zuviel Zeit. Er konnte Neela nicht an diesen höheren, antipodischen Zorn verlieren. Komm zurück, wollte er sagen. Komm zu mir, mein Liebling, bitte geh nicht. Aber sie war wieder am Apparat, und ihre Stimme hatte sich verändert. »Es geht um Jack«, sagte sie. »Er ist tot, man hat ihm den Kopf weggepustet, und in der Hand hielt er ein Geständnis.« Du hast die kopflose geflügelte Siegesgöttin gesehen, dachte Solanka dumpf. Du hast vom Kopflosen Reiter gehört. Gib sie auf für meinen kopflosen Freund Jack Rhinehart, die personifizierte Niederlage ohne Flügel und ohne Roß.
     

TEIL DREI
15
    Nichts ergab einen Sinn. Jacks Leiche war im Spassky Grain Building gefunden worden, einer Baustelle in Tribeca an der Ecke Greenwich und North Moore, deren Bauträger vor kurzem unter Beschuß durch die Gewerkschaften gestanden hatte, weil dort Streikbrecher beschäftigt worden waren. Der Bauplatz lag fünfzehn Gehminuten von Jacks Wohnung in der Hudson Street entfernt, und er war anscheinend in aller Ruhe zu Fuß mit einer geladenen Schrotflinte in der Hand dorthin gegangen, hatte die Canal Street - die trotz vorgerückter Stunde noch belebt war - überquert, ohne Aufmerksamkeit erregt zu haben, war dann in den Rohbau eingedrungen, mit dem Lift zum dritten Stock hinaufgefahren, hatte an einem Westfenster mit guter Aussicht auf den mondbeschienenen Fluß Aufstellung genommen, sich den Lauf in den Mund gesteckt, den Abzug betätigt und war auf den nackten, unfertigen Boden gestürzt, wobei er die Waffe fallen ließ, den Abschiedsbrief jedoch irgendwie

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