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Wut

Wut

Titel: Wut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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Scheidung war so gut wie durch. Solankas Tage begannen, vergingen, endeten. Die Untermietwohnung in New York hatte er aufgegeben und sich eine Suite im Claridge’s genommen. An den meisten Tagen verließ er sie nur, damit die Putzfrauen hereinkonnten. Er nahm keinen Kontakt mit Freunden auf, tätigte keine Geschäftstelefonate, kaufte sich keine Zeitungen. Nachdem er früh schlafen gegangen war, lag er mit weit offenen Augen steif in seinem bequemen Bett und lauschte auf die Geräusche der fernen Wut, versuchte Neelas verstummte Stimme zu hören. Am Weihnachtstag und zu Silvester bestellte er sich den Zimmerservice und sah sich hirnlose Fernsehsendungen an. Diese Expedition nach North London war sein erster richtiger Ausflug seit Monaten. Er war ganz und gar nicht sicher gewesen, ob er den Jungen auch nur sehen würde, aber Asmaan und Eleanor waren Gewohnheitstierchen, und ihre Unternehmungen waren relativ leicht vorauszusehen.
    Da es ein Feiertags-Wochenende war, gab es eine Kirmes auf der Heath. Auf dem Rückweg zum Haus an der Willow Road - es würde jetzt jeden Tag zum Verkauf ausgeschrieben werden - schlenderten Asmaan, Eleanor und Morgen durch die üblichen Karussells und Buden. Asmaan taute Franz gegenüber auf, stellte Solanka fest: lachte mit ihm, stellte ihm Fragen, seine Hand verschwand in Onkel Morgs großer, haarig-knochiger Faust. Gemeinsam stiegen sie in einen Wagen des Autoscooters, während Eleanor Fotos machte. Als Asmaan den Kopf an Morgens Sportjackett legte, zerbrach etwas in Malik Solankas Herz.
    Eleanor sah ihn. Er lehnte an einer Wurfbude, sie sah ihm direkt ins Gesicht und erstarrte. Dann schüttelte sie heftig den Kopf und formte mit dem Mund lautlos, aber sehr nachdrücklich das Wort nein . Nein, dies sei nicht der richtige Zeitpunkt; nach einer so langen Pause wäre der Schock für den Jungen zu groß. Ruf mich an, sagte sie dann ebenso lautlos. Vor einem eventuellen Treffen müßten sie darüber diskutieren, wie, wann, wo und was man Asmaan sagen sollte. Der Kleine müsse darauf vorbereitet werden. Das war genau die Reaktion, die Solanka von ihr erwartet hatte. Er wandte sich ab und sah die Hüpfburg. Sie war leuchtend blau, so blau wie eine Iris, mit einer Hüpftreppe auf einer Seite. Diese Hüpftreppe stieg man bis zu einer Hüpfgalerie empor, rutschte und schlitterte einen breiten Hüpfhang hinab, und dann konnte man nach Herzenslust hüpfen und springen, hüpfen und springen. Malik Solanka bezahlte den Eintritt und zog die Schuhe aus. »He, Moment mal!« rief die dicke Frau an der Kasse. »Nur für Kinder, mein Herr. Für Erwachsene verboten.« Aber er war zu schnell für sie, und mit seinem langen Ledermantel, der im Wind flatterte, hüpfte er, verblüffte Kinder hilflos hinter sich lassend, die Hüpftreppe hinauf, stand hoch über dem Kirmesplatz auf der Hüpfgalerie und begann sofort zu hüpfen und dabei aus vollem Hals zu rufen. Der Lärm, den er machte, war schrecklich, ein gigantisches Gebrüll aus dem Inferno, das Geschrei der Verlorenen und Gequälten. Aber er hüpfte immer höher und dachte gar nicht daran, mit dem Hüpfen aufzuhören oder das Brüllen einzustellen, bis dieser eine kleine Junge sich umdrehte, bis er erreicht hatte, daß Asmaan Solanka ihn trotz der dicken Frau, der sich ansammelnden Menge, der lautlos Worte formenden Mutter, des Mannes, der die Hand des Jungen hielt, und vor allem trotz des fehlenden goldenen Zylinders hörte, bis Asmaan sich umdrehte und seinen Vater da oben sah, seinen einzigen und alleinigen Vater, der in den Himmel, asmaan , emporflog, all seine verlorene Liebe heraufbeschwor und sie hoch oben in den Himmel warf wie einen weißen Vogel, den er aus seinem Ärmel zog. Sein einziger wahrer Vater flog empor wie ein Vogel, um im großen blauen Zelt des einzigen Himmels zu leben, an den er jemals hatte glauben können. »Guck mal!« schrie Professor Malik Solanka, dessen lederne Mantelschöße flatterten wie Schwingen. »Guck mal, Asmaan! Ich kann gut hüpfen! Ich hüpfe immer höher und höher!«
     
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