Wut
Ärger in ihm auf. »Was ich suche«, grollte er, »ist meine Ruhe und meinen Frieden.« Seine Stimme zitterte vor Wut, einer Wut, die weit größer war, als ihre Aufdringlichkeit es rechtfertigte, einer Wut, die ihn jedesmal von neuem erschreckte, wenn sie sein Nervensystem wie eine Riesenwelle überflutete. Als die junge Frau diesen Zorn hörte, zuckte sie zurück und suchte Zuflucht im Schweigen.
»Mann«, sagte der größte ihrer Beschützer von der Prätorianergarde, zweifellos ihr Liebhaber und wasserstoffblonder Centurion, »für einen Friedensapostel sind Sie aber ganz schön kriegerisch.«
Sie erinnerte ihn an jemanden, aber er wußte nicht, an wen, und diese kleine Erinnerungslücke, der Senioren-Moment , setzte ihm auf ärgerliche Weise zu. Zum Glück war sie nicht mehr da, war niemand mehr da, als er nach einem unerwarteten, starken und heißen Regenschauer mit durchweichtem Hut und vollkommen durchnäßt vom Caribbean Carnival zurückkehrte. Als er an der Synagoge der Shearith-Israel-Gemeinde am Central Park West vorbeikam (einem weißen Wal von Bauwerk mit dreieckigem Giebel, gestützt von vier massiven korinthischen Säulen), dachte Professor Solanka, der durch den Platzregen hastete, an die Bar-Mizwa eines dreizehnjährigen Mädchens, das er durch die offene Seitentür beobachtet hatte, wie es mit dem Messer in der Hand auf die Zeremonie des Brotsegnens wartete. Keine einzige Religion bietet eine Zeremonie an, in der man für alles, was einem beschert wird, dankbar sein kann, sinnierte Professor Solanka: Man sollte meinen, daß wenigstens die Anglikaner so etwas hätten. Das Gesicht des Mädchens schimmerte durch das trübe Licht, die jungen, runden Züge sprachen von der absoluten Zuversicht, daß all ihre Erwartungen sich erfüllen würden. Jawohl, eine gesegnete Zeit wäre das dann, falls man Wörter wie gesegnet benutzen wollte; was Solanka, ein Skeptiker, nicht tat.
Auf der nahen Amsterdam Avenue feierte man entlang eines Häuserblocks ein Sommerfest, einen Straßenmarkt, auf dem trotz der Regenschauer gute Geschäfte gemacht wurden. Professor Solanka schätzte, daß die Waren, die sich zu herabgesetzten Preisen auf den Ständen türmten, im weitaus größeren Teil der Welt die Vitrinen und Regale der exklusivsten kleinen Boutiquen und nobelsten Kaufhäuser gefüllt hätten. In ganz Indien, China, Afrika und weiten Teilen des südamerikanischen Kontinents hätten die, welche die Muße und das Portemonnaie für modische Dinge hatten - oder in den ärmeren Breiten schlicht gesagt für den Erwerb von überhaupt irgend etwas für die in Manhattan auf der Straße angebotenen Waren genauso gemordet wie für die abgelegten Kleider und bequemen Möbel, die in den opulenten Second-Hand-Läden zu finden waren, das ausrangierte Porzellan und die Designer-Schnäppchen in den Discount-Geschäften von downtown. Amerika beleidigt den Rest des Planeten, dachte Malik Solanka auf seine altmodische Art, indem es dieser Opulenz mit der achselzuckenden Lässigkeit der unverdient Reichen begegnet. Aber New York war in diesen Zeiten der Fülle zum Ziel und Objekt der Sinnenfreude und des Begehrens der ganzen Welt geworden, und die Beleidigung machte den Rest der Welt nur noch viel gieriger. Auf dem Central Park West fuhren Pferdekutschen auf und ab. Das Klingeln der Glöckchen an den Geschirren klang wie Bares auf der Hand.
Der Kino-Hit der Saison von Cäsar Joaquin Phoenix zeichnete ein Bild von der Dekadenz des alten Roms, in dem Ehre und Würde, ganz zu schweigen von Actionszenen auf Leben und Tod und andere Vergnügungen, nur in der computererzeugten Illusion der großen Gladiatoren-Arena, dem Flavianischen Amphitheater oder Colosseum zu finden waren. Doch auch in New York selbst gab es Brot und Spiele: ein Musical über liebenswerte Löwen, ein Radrennen auf der Fifth, Springsteen im Madison Square Garden mit einem Song über die einundvierzig Gewehrschüsse der Polizei, von denen der unschuldige Amadou Diallo getötet wurde, die Drohung der Polizeigewerkschaft, das Konzert des Boss zu boykottieren, Hillary gegen Rudy, die Beisetzung eines Kardinals, einen Film über liebenswerte Dinosaurier, die Autokolonnen zweier weitgehend austauschbarer und eindeutig wenig liebenswerter Präsidentschafts-Kandidaten (Gush, Bore), Hillary gegen Rick, das Gewitter, das auf das Springsteen-Konzert und das Shea Stadion niederging, die Amtseinsetzung eines Kardinals, eine Karikatur über liebenswerte britische Hühner, und
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