Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wut

Wut

Titel: Wut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
Vom Netzwerk:
nicht, was du mit ihr anfangen sollst, wenn sie da ist.« Aber noch immer kein Zorn in dieser sanften Stimme. »Ich dachte daran, wie schön es ist, von dir geliebt zu werden. Ich glaube, du hast mir gefehlt, deswegen bin ich froh, daß du zu Hause bist. Ich sehe uns überall, wohin ich auch gehe, ist das nicht dumm, ich sehe uns, wie lange wir doch glücklich zusammen waren. Dein Sohn ist etwas ganz Besonderes. Das findet jeder, der ihn sieht. Morgen findet, daß er überhaupt der beste ist, und du weißt, was Morgen von Kindern hält. Aber Asmaan liebt er wahnsinnig. Das tun alle. Und weißt du, daß er mich ständig fragt: Was würde Daddy sagen? Was würde Daddy denken? Du bist ständig in seinen Gedanken. Und in meinen. Deswegen wollte ich dir nur sagen, daß wir beide dich ganz lieb grüßen.«
     
    Asmaan übernahm den Hörer. »Ich will mit Daddy reden. Hallo, Daddy. Ich hab einen Schnupfen. Deswegen hab ich geweint. Deswegen war Olive nicht hier. « Deswegen ist Olive nicht hier. Olive war die Haushaltshilfe der Mutter, die Asmaan heiß und innig liebte. »Ich hab ein Bild für dich gemalt, Daddy. Das ist für Mummy und dich. Ich werd’s dir zeigen. Es ist rot und gelb und weiß. Ich hab ein Bild für Grandpa gemalt. Grandpa ist tot. Deswegen war er so lange krank. Grandma ist noch nicht tot. Es geht ihr gut. Vielleicht wird sie morgen sterben. Ich werde jetzt ein Stuhljunge, Daddy. Deswegen setze ich mich bald auf einen richtigen Stuhl. Aber noch nicht morgen! Nein. An einem anderen Tag. Es ist ja bloß ein Kinderstuhl. Kein großer. Deswegen muß ich größer werden, für den großen Stuhl. Da gehe ich heute nicht hin! Hmm. Hast du ein Geschenk, Daddy? Vielleicht ist da ein großer Efelant drin. Kann ja sein. Bestimmt ist es ein großer Efelant. Na ja: Wiedersehn.«
     
    Gegen Morgen erwachte er allein im Bett, aufgeweckt durch das Ächzen der Fußbodendielen im Stockwerk über ihm. Irgend jemand war da oben eindeutig ein Frühaufsteher. Solankas Sinne schienen alle Alarmstufe Rot zu haben. Sein Gehör war so übernatürlich scharf geworden, daß er die Piepser des Anrufbeantworters oben, das Wasser aus der Gießkanne der Nachbarin in die Blumenkästen am Fenster und Blumentöpfe im Zimmer plätschern hören konnte. Eine Fliege setzte sich auf seinen unbedeckten Fuß, und er sprang aus dem Bett, als hätte ihn ein Geist berührt, blieb nackt, töricht, verängstigt mitten im Zimmer stehen. Er konnte nicht schlafen. Die Straße war bereits lärmerfüllt. Er duschte lange und rief sich zur Ordnung. Mila hatte recht. Er mußte diese Sache unter Kontrolle bringen. Ein Arzt, er mußte zu einem Arzt gehen und sich entsprechende Medikamente verschreiben lassen. Wie hatte Rhinehart ihn doch scherzhaft genannt? Einen lauernden Herzanfall. Nun ja, streichen wir Herz. Er war zu einem lauernden Anfall geworden. Sein Jähzorn mochte früher einmal komisch gewesen sein, jetzt aber war er wirklich kein Witz mehr. Wenn er bis jetzt noch nichts angerichtet hatte, so konnte es jeden Moment geschehen; wenn die Wut ihn nicht schon ins Land des Unwiderruflichen geführt hatte, würde sie das noch tun, er wußte, daß sie das tun würde. Er hatte ja schon Angst vor sich selbst, und bald würde er alle anderen verscheuchen. Er brauchte nicht der Welt zu entfliehen; sie würde vor ihm davonlaufen. Er würde ein Mensch werden, vor dem die Leute auf die andere Straßenseite auswichen. Was, wenn Neela ihn zornig machte? Was, wenn sie ihn in einem Augenblick der Leidenschaft oben auf dem Kopf berührte?
    Hier, am Anfang des dritten Jahrtausends, gab es mühelos Medikamente gegen das Hereinbrechen des Empörenden und Unreifen in das erwachsene Ich. Hätte er früher an einem öffentlichen Ort wie ein Dämon gebrüllt, wäre er womöglich als Teufel verbrannt oder wie eine Hexe mit Steinen beschwert worden, um zu sehen, ob er auf dem East River schwamm. Früher wäre er im günstigsten Fall an den Pranger gestellt und mit verfaulten Früchten beworfen worden. Jetzt brauchte man nur schnell die Rechnung zu bezahlen und konnte wieder gehen. Und jeder gute Amerikaner kannte die Namen eines halben Dutzends wirksamer, stimmungsaufhellender Medikamente. Dies war eine Nation, für die das tägliche Herunterleiern pharmazeutischer Markennamen - Prozac, Halcion, Seroquil, Numscul, Lobotomine - einem Zen-Koan oder dem Aufsagen eines absurd patriotischen Schwurs glich: Ich schwöre Treue der amerikanischen Droge. Was also mit ihm geschah, war

Weitere Kostenlose Bücher