Wut
Schwulen fühle ich mich wohl. Absolut. Ich komme aus Kalifornien, Howard. Aber sicher. Der war nicht schwul. Der war ... gaga. Es war - wie soll ich sagen - albern. Als Gag schicke ich ihm immer noch Kuscheltiere zu Weihnachten. Etwa den Eisbären von Coca-Cola. Verstehen Sie? Er hat sich nie dafür bedankt, aber raten Sie mal! Er hat auch nie eins davon zurückgeschickt. Männer. Wenn man ihre Geheimnisse kennt, kann man sich das Lachen kaum verbeißen.«
»Ich habe überlegt, ob ich’s dir sagen soll«, sagte Mila, »aber dann dachte ich, was soll’s, die Schonzeit ist vorbei.« Dona Gio sang immer noch, aber das Kreischen der Furien übertönte im Moment ihre Stimme. Die hungrigen Göttinnen jagten um ihrer beider Köpfe, nährten sich von ihrem Zorn. Das Pincus-Interview dröhnte in ihm, und Milas Ausdruck veränderte sich. »Still«, sagte sie. »Okay, es tut mir leid, aber würdest du bitte aufhören, dieses Geräusch zu machen? Die werden uns gleich hier rausschmeißen, und ich hab noch nicht mal mein Dessert bekommen.« Es war deutlich, daß das Dröhnen in den Raum hinausgedrungen war. Die Leute starrten. Der Eigentümer und Manager, ein Raul-Julia-Typ, kam schon auf sie zu. Ein Glas zerbrach in Malik Solankas Hand. Es floß ein häßlicher Strom aus Wein und Blut. Jetzt mußten sie wirklich gehen. Verbandszeug wurde geholt und appliziert, die Hilfe eines Arztes abgelehnt, die Rechnung eiligst herbeigebracht und beglichen. Draußen hatte es zu regnen begonnen. Milas Wut ließ nach, übertroffen von seiner eigenen. »Also, diese Frau bei Howard«, sagte sie, als sie endlich ein Taxi erwischt hatten, »die kam mir im Grunde vor wie eine alternde Nympho, die aus dem Nähkästchen plaudert. Du bist ein älterer Mensch, du solltest wissen, wie das Leben ist. Überall hängen lose Enden herum, und gelegentlich schnappen sie zurück und schlagen dir wie eine Peitsche übers Gesicht. Laß sie laufen. Sie bedeutet dir nichts, hat dir kaum jemals was bedeutet, und bei der Masse von schlechtem Karma, die sie aufbaut, sehe ich schwarz für sie. Also Schluß mit dem Gebrüll in der Öffentlichkeit! Herrgott. Manchmal kannst du einem richtig Angst einjagen. Meistens denke ich, daß du keiner Fliege was zuleide tun kannst, und dann spielst du plötzlich diesen Godzilla aus der Schwarzen Lagune, der aussieht, als könnte er einem T-Rex die Kehle zerreißen. Das mußt du unter Kontrolle bringen, Malik. Wo immer es herkommt, dorthin mußt du es zurückschicken.«
»Der Islam wird deine Seele von schmutziger Wut befreien«, fiel der Taxifahrer ihr ins Wort, »und dir den heiligen Zorn zeigen, der Berge versetzt.« Und dann ergänzte er, indem er die Sprache wechselte und ein anderer Wagen seinem Taxi unerträglich nahe kam, »he, Amerikaner! Du bist ein gottloser homosexueller Vergewaltiger der Lieblingsziege deiner Großmutter.« Solanka mußte lachen, das furchtbare, freudlose Gelächter der Erleichterung: ein hartes, schmerzhaftes, reißendes Schluchzen. »Hallo, Geliebter Ali«, keuchte er. »Schön, daß du wieder so groß in Form bist.«
Eine Woche später rief Mila ihn überraschend an und lud ihn ein, um über etwas anderes zu sprechen . Sie gab sich freundlich, sachlich, aufgeregt. Sie hat sich schnell wieder gefaßt, dachte Solanka erstaunt, als er ihre Einladung akzeptierte. Es war sein erster Besuch in Milas winziger Wohnung im dritten Stock ohne Lift, die, wie er fand, wie ein typisch amerikanisches Apartment aussehen wollte, was aber ziemlich danebengegangen war: Poster von Sportgrößen wie Latrell Sprewell und Serena Williams rahmten mehr oder weniger passend Bücherregale, die vom Boden bis zur Decke reichten und sich unter dicken Bänden serbischer und osteuropäischer Literatur im Original sowie in französischer und englischer Übersetzung bogen - Kis, Andric, Pavic, einiges von den Konventionen verachtenden Klkotrizans und, aus der klassischen Periode, Obradovic und Vuk Stefanovic Karadzic; außerdem Klima, Kadare, Nädas, Konräd, Herbert. Nirgends gab es ein Foto von ihrem Vater; Solanka fiel diese Unterlassung sofort auf. Das gerahmte Schwarzweiß-Foto einer jungen Frau im Blümchenkleid mit Gürtel, die Solanka breit entgegenlächelte. Milas Mutter sah aus wie Milas jüngere Schwester. »Siehst du, wie glücklich sie ist?« sagte Mila.
»Das war der letzte Sommer, bevor sie von ihrer Krankheit erfuhr. Ich bin jetzt genauso alt wie sie, als sie von uns ging, also ein Albtraum weniger, der
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