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Wut

Wut

Titel: Wut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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dublonenschweren Topf, am Ziel aller Wünsche, waren die Erwartungen der Menschen die höchsten in der Menschheitsgeschichte und mußten daher zu Enttäuschungen werden. Wenn Brandstifter Feuer legten, die den Westen des Landes niederbrannten, wenn ein Mann zu einer Waffe griff und wahllos völlig Fremde erschoß, wenn ein Kind eine Waffe nahm und Freunde tötete, wenn Betonbrocken die Schädel reicher junger Frauen zerschmetterten, war diese Enttäuschung, für die das Wort Enttäuschung zu schwach war, der Motor, der die sprachlose Ausdrucksfähigkeit des Killers antrieb. Dies war das einzige Thema: Die Zerstörung der Träume in einem Land, in dem das Recht auf Träume ein nationaler, ideologischer Eckpfeiler war, die langsame Aufhebung aller persönlichen Möglichkeiten in einer Zeit, da die Zukunft sich öffnete und Ausblicke auf unvorstellbare, glitzernde Schätze bot, wie kein Mensch sie sich jemals zuvor erträumt hatte. In den qualvollen Flammen und peinigenden Kugeln hörte Malik Solanka eine wesentliche, ignorierte, unbeantwortete und vielleicht nicht zu beantwortende Frage - dieselbe Frage, laut und lebensvernichtend wie in Munchs Schrei , die er sich soeben selbst gestellt hatte: Ist das alles? War es das? War es das wirklich? Menschen wie Krysztof Waterford-Wajda wachten auf und erkannten, daß ihr Leben nicht mehr ihnen gehörte. Daß ihr Körper nicht mehr ihnen gehörte und daß niemandes Körper auch niemandem mehr gehörte. Sie sahen keinen Grund mehr, nicht zu schießen.
    Jene, die die Götter vernichten wollen, machen sie zuerst wahnsinnig. Die Furien dräuten über Malik Solanka, über New York und Amerika und kreischten. Auf den Straßen unten kreischte der Verkehr, menschlicher und unmenschlicher, wütend seine Zustimmung.
     
    Geduscht und ein bißchen ruhiger, erinnerte sich Solanka, daß er Jack noch immer nicht angerufen hatte. Er merkte, daß er das gar nicht wollte. Der Jack, wie er von Neela geschildert worden war, hatte ihn enttäuscht und enerviert, was an sich eigentlich keine Rolle spielen sollte. Sicher, er selbst mußte Jack schon oft enttäuscht, ja durch seinen berühmten Solanka-Jähzorn verärgert haben. Freunde sollten derartige Hindernisse mit Leichtigkeit nehmen; und dennoch griff Solanka nicht zum Telefon. Nun ja, dann war auch er ein schlechter Freund und verlängerte damit die Liste seiner Fehler. Jetzt stand Neela zwischen ihnen. Und das war’s. Ungeachtet der Tatsache, daß sie ihre Beziehung mit Jack gelöst hatte, bevor zwischen ihr und Solanka etwas entstand. Wichtig war, wie Jack es sehen würde, und der würde es als Verrat empfinden. Und wenn er sich selbst gegenüber ehrlich war, mußte Solanka zugeben, daß er es ebenfalls als Verrat betrachtete. Außerdem war Neela jetzt auch noch ein Hindernis zwischen ihm und Eleanor. Er hatte sie aus einem offensichtlichen und einem unterschwelligen Grund verlassen: wegen der grauenvollen Tatsache des Messers im Dunkeln und insgeheim wegen der Ehe, wegen der Erosion dessen, was für ihn einst überwältigend gewesen war. Wütendes und neu entbranntes Verlangen ließ sich nur schwer gegen die ruhigere, sanftere alte Flamme aufgeben. »Es muß doch eine andere geben«, hatte Eleanor gesagt; und jetzt gab es eine, gab es Neela. Neela Mahendra, das letzte große, emotionale Wagnis seines Lebens. Nach ihr, falls er sie verlor, wie es vermutlich der Fall sein würde, sah er nur noch eine Wüste, deren weiße Dünen auf ein sandiges Grab zuglitten. Die Gefahren des Unternehmens, gefördert durch den Unterschied in Alter und Herkunft, durch den Schaden, den er genommen hatte, und ihre Launenhaftigkeit waren beträchtlich. Wie entscheidet eine Frau, nach der sich jeder einzelne Mann verzehrt, daß einer genug ist? Gegen das Ende ihrer ersten gemeinsamen Nacht hatte sie gesagt: »Ich habe dies nicht gewollt. Ich bin nicht sicher, ob ich schon bereit dafür bin.« Sie meinte, daß damit ein Gefühl begonnen hatte, so tief und so plötzlich, daß es ihr angst machte. »Das Risiko könnte zu groß sein.« Er hatte den Mund ein wenig zu bitter verzogen. »Ich frage mich«, sagte er, »wer von uns das größere emotionale Wagnis eingeht.« Doch seine Frage bereitete ihr keine Probleme. »Oh, das bist du«, antwortete sie ihm.
     
    Wislawa kehrte an ihre Arbeit zurück. Der sanfte Simon Jay hatte Solanka von seiner Farm aus angerufen, um ihm zu berichten, er und seine Frau hätten die zornige Putzfrau beruhigt, aber ein reumütiger Anruf

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