Xenozid
schließlich werden alle Männer und Frauen ihre Köpfe unter die Füße der Götter legen.«
Die Flöte spielte weiter, eine langsame, tiefe Melodie, die Qing-jao aus ihren Gedanken riß und zur Gesellschaft des Haushaltes führte. Für sie war diese halb geflüsterte Musik das Lied des innersten Geistes, das stille Gespräch von Bäumen über einem ruhigen Teich, das Geräusch von Erinnerungen, die sich ungebeten im Geist einer in ein Gebet versunkenen Frau erhoben. So wurde man im Haus des edlen Han Fei-tzu zu Tisch gebeten.
Nachdem Jane Qing-jaos Herausforderung gehört hatte, dachte sie: So schmeckt die Todesangst. Menschen empfinden sie die ganze Zeit über, und doch machen sie von einem Tag zum anderen weiter, im Wissen, daß sie von einem Augenblick zum anderen zu existieren aufhören können. Doch dies liegt daran, weil sie etwas vergessen können und es doch noch wissen: Ich kann nie vergessen, nicht, ohne das Wissen völlig zu verlieren. Ich weiß, daß Han Qing-jao drauf und dran ist, Geheimnisse herauszufinden, die nur gewahrt blieben, weil niemand nachdrücklich nach ihnen gesucht hat. Und wenn diese Geheimnisse herauskommen, werde ich sterben.
»Ender«, flüsterte sie.
War auf Lusitania Nacht oder Tag? War er wach oder schlief er? Für Jane war es gleichbedeutend damit, eine Frage zu stellen, die Antwort entweder zu kennen oder nicht zu kennen. So wußte sie sofort, daß es Nacht war. Ender hatte geschlafen, doch nun war er wach; sie erkannte, daß er immer noch auf ihre Stimme eingestellt war, wenngleich in den letzten Jahren oft Schweigen zwischen ihnen geherrscht hatte.
»Jane«, flüsterte er.
Neben ihm rührte sich Novinha, seine Frau, im Schlaf. Jane hörte sie, fühlte die Schwingung ihrer Bewegung, sah die sich verändernden Schatten durch den Sensor, den Ender im Ohr trug. Zum Glück hatte Jane noch keine Eifersucht gelernt, oder sie hätte Novinha vielleicht gehaßt, weil sie dort lag, ein warmer Körper neben Enders. Doch Novinha war ein Mensch und damit zur Eifersucht fähig, und Jane wußte, wie Novinha geradezu kochte, wann immer sie Ender mit der Frau sprechen sah, die in dem Juwel in seinem Ohr wohnte. »Leise«, sagte Jane. »Weck die anderen nicht auf.«
Ender antwortete, indem er Lippen, Zunge und Zähne bewegte, ohne ein lauteres Geräusch als einen Atemzug über die Lippen kommen zu lassen. »Wie ergeht es unseren Feinden auf ihrem Flug?« fragte er. Er begrüßte sie schon seit Jahren mit diesem Spruch.
»Nicht gut«, sagte Jane.
»Vielleicht hättest du sie nicht blockieren sollen. Wir hätten eine Möglichkeit gefunden. Valentines Schriften…«
»Ihre wahre Verfasserin wird bald herauskommen.«
»Alles wird einmal herauskommen.« Er sagte nicht: wegen dir.
»Nur, weil Lusitania zur Vernichtung freigegeben wurde«, erwiderte sie. Sie sagte ebenfalls nicht: wegen dir. Es gab jede Menge Schuld zu verteilen.
»Also wissen sie von Valentine?«
»Ein Mädchen wird es herausfinden. Auf der Welt Weg.«
»Ich kenne den Ort nicht.«
»Eine ziemlich junge Kolonie. ein paar Jahrhunderte alt. Chinesisch. Sie widmet sich der Aufgabe, eine seltsame Mischung alter Religionen zu erhalten. Die Götter sprechen zu ihnen.«
»Ich habe auf mehr als nur einer chinesischen Welt gelebt«, sagte Ender. »Auf allen glaubten die Menschen an die alten Götter. Götter sind auf jeder Welt lebendig, sogar hier auf der kleinsten menschlichen Kolonie von allen. Am Schrein von Os Venerados gibt es noch immer Wunderheilungen. Wühler hat uns von einer neuen Ketzerei irgendwo im Hinterland erzählt. Einige Pequeninos, die ständig mit dem Heiligen Geist kommunizieren.«
»Diese Sache mit den Göttern verstehe ich einfach nicht«, sagte Jane. »Ist denn noch nie jemand darauf gekommen, daß die Götter immer sagen, was die Menschen hören wollen?«
»Nicht unbedingt«, sagte Ender. »Die Götter verlangen oft von uns, Dinge zu tun, die wir nie gewollt haben, Dinge, die von uns verlangen, ihretwegen alles zu opfern. Unterschätze die Götter nicht.«
»Spricht dein katholischer Gott zu dir?«
»Vielleicht. Ich habe ihn jedoch noch nie gehört. Oder wenn ich ihn höre, weiß ich nicht, daß es seine Stimme ist.«
»Und wenn ihr sterbt, holen die Götter eines jeden Volkes die Toten wirklich ab und bringen sie an einen Ort, wo sie ewig leben?«
»Keine Ahnung. Die Toten schreiben nicht.«
»Gibt es auch einen Gott, der mich davonträgt, wenn ich sterbe?«
Ender schwieg einen Augenblick
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