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Xenozid

Xenozid

Titel: Xenozid Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Card Orson Scott
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Regen
     
    Die Worte des Gedichts kamen ihr wieder in den Sinn. Ich fürchtete nicht. Zornige Winde. Heftiger Regen. Ich fürchtete mich nicht, als
     
    Wir tranken auf unser Glück
    mit warmem Brombeerwein
    nun kann ich mir nicht vorstellen
    wie ich diese Zeit auferstehen lassen kann
     
    Meine Vorfahrin-des-Herzens konnte ihre Furcht wegtrinken, dachte Qing-jao, weil sie jemanden hatte, mit dem sie trinken konnte. Und selbst jetzt,
     
    Allein auf meiner Matte mit einer Tasse
    traurig ins Nichts blickend
     
    erinnert sich sich Dichterin an ihre verlorene Gesellschaft. An wen erinnere ich mich jetzt? dachte Qing-jao. Wo ist mein zärtlicher Liebhaber? Was für ein Zeitalter muß es damals gewesen sein, als die große Li Qing-jao noch sterblich war und Männer und Frauen als zärtliche Freunde Zusammensein konnten, ohne sich Sorgen darüber zu machen, zu wem die Götter sprechen und zu wem nicht. Damals konnte eine Frau ein Leben führen, bei dem sie selbst in ihrer Einsamkeit Erinnerungen hatte. Ich kann mich nicht einmal an das Gesicht meiner Mutter erinnern. Nur die flachen Bilder; ich kann mich nicht erinnern, wie sie das Gesicht drehte und bewegte, während ihre Augen mich betrachteten. Ich habe nur meinen Vater, der wie ein Gott ist; ich kann ihn verehren und ihm gehorchen und ihn sogar lieben, doch ich kann in seiner Gegenwart nie ausgelassen, verspielt sein. Wenn ich ihn necke, beobachte ich ihn immer, um mich zu vergewissern, daß er die Art und Weise billigt, wie ich ihn necke. Und Wang-mu; ich sprach so fest darüber, daß wir Freundinnen sein würden, und doch behandle ich sie wie eine Dienerin. Ich vergesse keinen Augenblick lang, zu wem die Götter sprechen und zu wem nicht. Es ist wie eine Mauer, die niemals überwunden werden kann. Ich bin jetzt allein und werde auf ewig allein sein.
     
    Eine klare Kälte kommt durch
    die Fenstervorhänge
    der Halbmond hinter den goldenen Gittern
     
    Sie erschauderte. Ich und der Mond. Hielten die Griechen ihren Mond nicht für eine kalte Jungfrau, eine Jägerin? Ist es das, was ich jetzt bin? Sechzehn Jahre alt und unberührt
     
    und eine Flöte erklingt
    als käme jemand
     
    und ich lausche und lausche, höre aber nie die Melodie von jemandem, der kommt…
    Nein. Was sie hörte, waren die fernen Geräusche einer Mahlzeit, die gerade zubereitet wurde; das Klappern von Schüsseln und Löffeln, Gelächter aus der Küche. Nachdem ihr Tagtraum durchbrochen war, hob sie die Hand und wischte die törichten Tränen von ihren Wangen. Wie konnte sie sich für einsam halten, wo sie doch in diesem vollen Haus lebte, in dem sich jeder ihr ganzes Leben lang um sie gekümmert hatte? Ich sitze hier und zitiere Fetzen aus alten Gedichten, wo ich doch eigentlich zu arbeiten hätte.
    Und augenblicklich rief sie die Berichte auf, die über Nachforschungen über Demosthenes' Identität erstellt worden waren.
    Die Berichte ließen sie einen Augenblick lang glauben, auch dies sei eine Sackgasse. Über drei Dutzend Autoren auf fast ebenso vielen Welten waren verhaftet worden, weil sie unter diesem Namen aufwieglerische Dokumente erstellt hatten. Der Sternenwege-Kongreß war zu der offensichtlichen Schlußfolgerung gelangt: Demosthenes war einfach der Deckname aller Rebellen, die Aufmerksamkeit erregen wollten. Es gab keinen echten Demosthenes, nicht einmal eine organisierte Verschwörung.
    Doch Qing-jao hatte ihre Zweifel, was diese Schlußfolgerung betraf. Demosthenes hatte bemerkenswerten Erfolg damit gehabt, auf jeder Welt Ärger zu machen. Konnte es überhaupt jemanden mit soviel Talent unter den Verrätern eines jeden Planeten geben? Wohl kaum.
    Außerdem war Qing-jao damals, als sie Demosthenes gelesen hatte, die Kohärenz seiner Schriften aufgefallen. Der einzigartige Zusammenhang seiner Vision – das ließ ihn so verführerisch wirken. Alles schien zusammenzupassen, gemeinsam Sinn zu ergeben.
    Hatte Demosthenes nicht auch die Hierarchie der Fremdheit entworfen? Framling, Ramann, Varelse. Nein, das war vor vielen Jahren geschrieben worden – es mußte ein anderer Demosthenes sein. Benutzten die Verräter wegen der Hierarchie des früheren Demosthenes heute noch dessen Namen? Ihre Schriften unterstützten die Unabhängigkeit Lusitanias, des einzigen Planeten, auf dem intelligentes nichtmenschliches Leben gefunden worden war. Da war es nur angemessen, den Namen des Schriftstellers zu benutzen, der der Menschheit zum ersten Mal beigebracht hatte, daß das Universum nicht

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