Xenozid
tot waren. Keine herumeilenden Krabbler, die wie Amerisen über die Hügel schwärmten. Sie wußte, daß irgendwo unter der offenen Sonne Felder und Obstgärten bewirtet wurden, doch von hier aus war nichts davon zu sehen.
Warum fühlte sie sich deshalb so erleichtert?
Sie kannte die Antwort auf die Frage, noch bevor sie sie gestellt hatte. Sie hatte ihre Kindheit während der Krabblerkriege auf der Erde verbracht; die insektoiden Außerirdischen hatten sie in ihren Alpträumen verfolgt, wie jedes andere Kind auf der Erde auch. Doch nur eine Handvoll Menschen hatten jemals einen Krabbler von Angesicht zu Angesicht gesehen, und von denen lebten selbst zu der Zeit, als sie ein Kind war, nur noch wenige. Selbst in ihrer ersten Kolonie, wo sie von den Ruinen der Krabblerzivilisation umgeben war, hatte man nicht eine einzige ausgetrocknete Leiche gefunden. Ihre gesamten visuellen Vorstellungen von den Krabblern entstammten den Schreckensbildern der Videos.
Doch war sie nicht der erste Mensch, der Enders Buch Die Schwarmkönigin gelesen hatte? War sie nicht die erste, die sich, von Ender einmal abgesehen, die Schwarmkönigin als Wesen von fremdartiger Anmut und Schönheit vorgestellt hatte?
Sie war die erste, ja, aber das bedeutete wenig. Alle anderen Menschen, die heute lebten, waren in einem Universum aufgewachsen, das zum Teil von Die Schwarmkönigin und Der Hegemon geprägt worden war, wohingegen sie und Ender die beiden einzigen noch lebenden Menschen waren, die mit einer ständigen Kampagne des Abscheus gegen die Krabbler großgeworden waren. Natürlich empfand sie eine irrationale Erleichterung darüber, die Krabbler nicht sehen zu müssen. Bei Miro und Plikt würde der erste Anblick der Schwarmkönigin und ihrer Arbeiter nicht die gleiche emotionale Spannung auslösen wie bei ihr.
Ich bin Demosthenes, rief sie sich in Erinnerung. Ich bin die Theoretikerin, die darauf bestanden hat, daß die Krabbler Ramänner sind, Außerirdische, die man verstehen und akzeptieren kann. Ich muß einfach mein Bestes geben, um die Vorurteile meiner Kindheit zu überwinden. Zu gegebener Zeit wird die gesamte Menschheit von der Wiederauferstehung der Schwarmkönigin erfahren; es wäre schändlich, wenn Demosthenes die einzige wäre, die die Schwarmkönigin nicht als Ramann begrüßen könnte.
Ender führte den Wagen in einem Kreis um ein kleineres Gebäude. »Das ist die richtige Stelle«, sagte er. Er hielt den Wagen an, ließ den Ventilator langsamer laufen und richtete ihn auf das Capim neben der einzigen Tür des Hauses. Die Tür war sehr niedrig – ein Erwachsener konnte sie nur auf Händen und Knien passieren.
»Woher weißt du das?« fragte Miro.
»Weil sie es sagt«, erwiderte Ender.
»Jane?« Er schaute verblüfft drein, denn zu ihm hatte Jane natürlich noch nie etwas in dieser Art gesagt.
»Die Schwarmkönigin«, erklärte Valentine. »Sie spricht direkt in Enders Verstand.«
»Schöner Trick«, sagte Miro. »Kann ich den auch lernen?«
»Wir werden sehen«, sagte Ender. »Wenn du sie kennenlernst.«
Als sie aus dem Wagen stiegen und sich in das hohe Gras fallen ließen, wurde Valentine bewußt, daß Miro und Ender Plikt unentwegt musterten. Natürlich störte es sie, daß Plikt so still war. Oder besser, so still wirkte. Valentine hielt Plikt für eine redselige, eloquente Frau. Doch sie hatte sich auch daran gewöhnt, daß Plikt zu bestimmten Zeiten einfach die Taubstumme spielte. Ender und Miro sahen sich natürlich zum ersten Mal mit ihrem sonderbaren Schweigen konfrontiert, und es störte sie. Was einer der wichtigsten Gründe war, weshalb Plikt schwieg. Sie war der Ansicht, daß die Menschen sich am ehesten offenbarten, wenn sie eine gewisse Angst oder Besorgnis verspürten, und nur wenige Dinge sind so gut imstande, eine nicht spezifische Besorgnis auszulösen wie die Gegenwart einer Person, die niemals spricht.
Valentine hielt nicht viel von dieser Technik, wenn es darum ging, sich mit Fremden zu befassen, doch sie hatte beobachtet, wie Plikts Schweigen als Lehrerin ihre Schüler – Valentines Kinder – zwang, sich mit ihren eigenen Ideen zu befassen. Wenn Valentine und Ender unterrichteten, forderten sie ihre Schüler mit Dialogen, Fragen, Streitpunkten heraus. Doch Plikt zwang ihre Schüler, beide Seiten eines Streitpunkts durchzuspielen, eigenen Ideen hervorzubringen und sie dann anzugreifen, um ihre eigenen Einwände zu widerlegen. Diese Methode würde bei den meisten Menschen wahrscheinlich
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