Yofi oder Die Kunst des Verzeihens – Ein Nashorn lernt meditieren
tröstete: dass irgendwann einmal alles besser würde. Er wusste nur nicht, wann.
Wenn ich jetzt abschwirre, wär das der Sieg für Antros.
»Nashörner sind eben nicht zum Wandern geboren«, grummelte Yofi.
»Wer sagt das?«
»Alle.«
»Beeindruckend«, spottete Meru. »Wir reden über den größten Wunsch deines Lebens, und du willst dich danach richten, was alle sagen.«
Sie waren an zwei Akazien angekommen.
»Ich werde dich jetzt alleine lassen«, sagte Meru. »Bei Sonnenaufgang bin ich wieder hier. Bitte entscheide dich spätestens morgen früh.«
Yofi trabte lange aufgewühlt durch die Nacht, bevor er zu den Bäumen zurückkehrte und sich hinlegte. Dann ließ er noch einmal alles an sich vorüberziehen: Er war bei Mondlicht aufgebrochen und hatte gegen einen beachtlich starken Bullen im Greisenalter gekämpft. Der behauptete, sein Großvater zu sein, und legte ihm nahe, sein bisheriges Leben hinter sich zu lassen, um ans Meer zu wandern.
Yofi grübelte. Je mehr er nachdachte, desto verwirrter fühlte er sich. Seine Gedanken sprangen durcheinander wie eine Herde Zebras auf der Flucht. Einen Moment lang war er sicher, dass er mitgehen würde.
Ade, du langweiliger Trott.
Kurz darauf war er vom Gegenteil überzeugt.
Das ist doch verrückt! Nashörner bleiben in ihrem Revier!
Immer wenn die Zebraherde stehen blieb und friedlich graste, fiel ihm etwas Neues ein. Die Zebras sprangen davon. Die Grübelei begann von vorne.
*
Als er aufwachte, war es bereits hell. Meru stand neben den Akazien – das Gesicht zur Sonne gedreht, die Augen geschlossen. Wieder hatte Yofi den Eindruck, dass die Haut des Alten weißlich schimmerte.
Sicher wegen der Sonnenstrahlen.
Meru öffnete die Augen.
»Guten Morgen.«
»Guten Morgen.«
»Gewichtige Entscheidungen fallen schwer, nicht wahr?«
Yofi meinte, leichten Spott zu hören.
Nette Aufmunterung , dachte er verärgert.
Sie trotteten zum Wasserloch. Scheu gesellten sich Büffel und Giraffen dazu.
»Ich kann gut nachempfinden, wie du dich fühlst«, sagte Meru. »Mir ging es damals ähnlich.«
»Und dann bist du mit deinem Opa einfach losgezogen.«
Meru lachte.
»Nein, so einfach war das nicht. Zum einen hatte ich das Meer vergessen. Erst Großvater Sasa erinnerte mich wieder daran. Zum anderen hatte ich große Angst, einen Fehler zu machen.«
»Er hat dich also überredet.«
»Nein. Ebenso wenig, wie ich das jetzt vorhabe. An dem Morgen, an dem ich mich entscheiden sollte, erzählte er mir eine Geschichte. Willst du sie hören?«
Yofi nickte.
»Jedes Nashorn«, setzte der Alte an, »kommt mit einem Lebenstraum auf die Welt: einem Herzenswunsch, der größer ist als alle anderen. Das ist der Wunsch, den sich jeder erfüllen möchte, ganz gleich, was das Leben sonst bringt. Freilich kennt ein kleines Nashorn diesen Wunsch noch nicht. Denn erst muss es eine Menge lernen: fressen, laufen, sich gegen Parasiten schützen. Wenn es das alles kann, entdeckt es – oft wie zufällig – etwas, bei dem es sich rundum lebendig fühlt und von Kopf bis zur Hufe freut. Manche spüren das, wenn sie auf Hügel klettern. Andere lieben es, den ganzen Tag zu rennen. Einige sind glücklich, wenn sie laut brüllen. Und manche fühlen sich im Wasser am wohlsten. So war es bei mir – bei dir offenbar auch.«
» Das ist der Lebenstraum?«, fragte Yofi.
»Nicht ganz. Aber wir sind ihm auf der Spur. Irgendwann, die Kinder sind oft schon größer, spüren sie eine starke Sehnsucht, die sie vorher nicht gekannt haben. Bei mir war es der dringende Wunsch, ans Meer zu wandern, nachdem ich das erste Mal davon gehört hatte.«
»Das kenne ich«, sagte Yofi.
»Großvater Sasa ging es auch so. Seinem Großvater ebenfalls.«
»Haben Enkel immer denselben Lebenstraum wie ihre Opas?«
»In unserer Familie ist es so, mehr weiß ich nicht. Leider ist es auch eine lange Tradition bei uns, den Herzenswunsch wieder zu vergessen.«
»Warum?«
»Hast du schon einmal von Fabelwesen gehört, die in einer anderen Welt leben?«
Yofi nickte. Seine Mutter Dana hatte ihm früher jeden Abend vor dem Einschlafen ein Märchen erzählt: von fliegenden Nashörnern, von verhexten Nashörnern, von Zwerg-, von Riesen- und von weißen Nashörnern. Manchmal auch von Geschöpfen, die fremd aussahen und sich seltsam benahmen: Elfen, Wichte, Trolle und Dämonen.
»Es gibt Wesen«, holte Meru aus, »die ernähren sich von den großen Herzenswünschen: die Traumschlürfer. Unsere Lebensträume sind ausgesprochen
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