Yofi oder Die Kunst des Verzeihens – Ein Nashorn lernt meditieren
nahrhaft für sie und schmecken ihnen vorzüglich. Oft saugen sie den ganzen Traum aus dem Herzen heraus. Bis auf einen winzigen Tropfen. Den erwischen sie nie, ganz gleich, was passiert. Und das ist gut so. Denn er ist etwas Besonderes: Aus ihm kann der Traum wieder vollständig erwachsen. So wie deine Haut nachwächst, wenn du verletzt bist. Die Schlürfer sind davon überzeugt, dass der letzte Tropfen das Leckerste der ganzen Welt ist. Ob das stimmt, wissen sie nicht: Weil noch keiner von ihnen das edle Elixier jemals getrunken hat. Wie du dir denken kannst, sind sie recht gierig darauf.«
Yofi dachte nach. Früher war es wirklich sein größter Wunsch gewesen, ans Meer zu wandern. Irgendwann war er verschwunden.
Der Bulle hatte geglaubt, das sei eben so, wenn man erwachsen wird ...
»Das ist ein Märchen, oder?«, fragte er nach einer Weile.
Er wusste die Antwort. Trotzdem fühlte er sich unbehaglich bei dem Gedanken, irgendwelche schlürfenden Wesen könnten in seinem Körper herumkriechen.
»Es gibt auch wahre Märchen«, antwortete Meru.
»Wie sehen denn diese Schlürfer aus?«
»Das ist bei jedem anders. Weil sie ihre Gestalt verändern können, wie es ihnen passt.«
Yofi atmete laut.
»Sogar wenn noch ein Tropfen in mir sein sollte: Ich habe keine Ahnung, wo er steckt.«
Merus Augen glänzten.
»Da kann dir geholfen werden.«
Sein Enkel drehte neugierig den Kopf.
»Jedenfalls konnte Großvater Sasa mir damals helfen. Er stellte mir eine Frage, die mein Leben verändert hat. Er wiederum kannte sie von seinem Großvater.«
»Und wie lautet diese Wunderfrage?«
»Stell dir vor, du stirbst beim nächsten Vollmond. Was willst du vorher auf jeden Fall noch tun?«
Yofi war erstaunt. Das hatte er nicht erwartet.
»Was soll ich ...?«
»Nimm für einen Moment an, dass du bald tot bist.«
Alles in Yofi sträubte sich gegen das Gedankenspiel. Er hatte nicht vor, demnächst zu sterben. Aber es gelang ihm nicht mehr, die Frage abzuschütteln. Er wurde traurig und begann zu zittern.
Meru drückte zart den Kopf an seine Seite, um ihn zu beruhigen.
»Das wäre das Schlimmste, was passieren könnte«, sagte Yofi leise.
»Weshalb?«
»Dann hätte ich ja mein ganzes Leben verschwendet.«
»Was müsstest du noch meistern, damit du zufrieden sterben könntest?«, fragte Meru sanft.
Yofi überlegte, wie es wäre, bis zu seinem Tode hier zu bleiben, sich über die Anderen zu ärgern und die Ausdünstungen des Nachbarn zu riechen. Ihm wurde übel.
Nein! Ich muss hier weg!
Der Bulle wusste auf einmal genau, was er wollte – in einer Klarheit, die ihn selbst erstaunte.
»Ich komme mit!«
Ein seltsames Gefühl durchrieselte ihn, während er sich sprechen hörte. Er empfand sich ungewohnt leicht. Einen Augenblick lang wurde ihm schwindlig. Dann spürte er eine Wärme in seiner Brust und fühlte sich am ganzen Körper lebendig. Antros und der Streit waren weit weg. Viel weiter, als das Meer je sein konnte.
Meru lächelte und erinnerte sich daran, wie er damals seine Wahl getroffen hatte. Er war überzeugt gewesen, nie an den Hohen Berg zurückzukehren.
Jetzt bin ich also doch wieder hier. So spielt das Leben.
»Ich will mich aber noch von meinem Sohn verabschieden. Und von seiner Mutter«, sagte Yofi dann.
»Das kommt mir entgegen. Soweit ich weiß, sind sie derzeit an der Grotte.«
Yofi staunte, sagte aber nichts. Sie fanden die kleine Nashorngruppe an der Höhle, die ins Innere des Hohen Berges führte. Yofi roch Sara schon von Weitem. Liebevoll beschnupperten sie sich.
»Ich werde mit meinem Großvater ans Meer wandern.«
»Endlich«, sagte Sara.
Yofi war verblüfft.
Ist sie etwa froh, wenn ich weg bin?
»Wieso endlich?«
»Weil du ein mürrischer Eigenbrötler geworden bist.«
»Du freust dich also, dass ich fortgehe?«
»Nein, das macht mich traurig. Aber ich weiß, dass das Meer dir einmal das Wichtigste auf der Welt war. Als Kind hast du von nichts anderem gesprochen. Auch mir hast du ständig davon erzählt.«
»Daran erinnerst du dich?«
»Sicher. Irgendwann hast du das Meer offenbar vergessen. Wo ist dein Großvater eigentlich?«
Yofi drehte sich um. Meru war verschwunden.
»Keine Ahnung.«
»Gestern hat mich übrigens Antros besucht und sich nach dir erkundigt. Ihr sprecht ja immer noch nicht miteinander.«
»Wahrscheinlich hat er sich damit aufgeblasen, dass er alleine auf den Hohen Berg klettert.«
»Es gibt keinen Grund für Eifersucht«, sagte Sara und lächelte.
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