Yolo
nimmt meine Stöcke wieder an sich, tastet mit seiner Hand meine Schulter ab, »tut das weh?«
Wir schlendern hinüber zum See, wo drei andere Patienten auf uns warten, eine Frau und zwei Männer. Es ist die Frau, die ich an der Wegkreuzung um Auskunft gebeten habe. Sie trägt über Leggins ein rosa Rüschenhemd, dazu passende Stulpen, gekämmt ist sie à la Pippi Langstrumpf. Das Outfit des einen Mannes erinnert mich an Christians Unterwäsche. Von der Brust an aufwärts ist der Mann schlank, irgendetwas muss mit seinem aufgeschwollenen Bauch nicht in Ordnung sein; ein Vielfraß sähe anders aus, wäre pausbackig, zugänglich, gemütlich. Dieses Gesicht aber macht auf Ablehnung, sobald sein Mund schweigt, während der andere Mann, ein Spindeldünner, dessen Shorts und T -Shirt wie über einem Bügel hängen, ganz lebensfroh wirkt: »Ist doch in Ordnung, wenn wir Sportfreunde einander duzen, oder?«
Der mit dem Problembauch heißt, wie könnte er anders, Ernst, der Kumpel heisst Charly, und Pippi Langstrumpf stellt sich als »Jutta aus Kalkutta« vor.
Unser athletischer Therapeut bewegt sich spielerisch leicht, so kraftvoll und elegant, dass die staksigen Anfänger hinter ihm ein trauriges Bild abgeben. Jutta und ich erweisen uns auch nicht gerade als große Sportlerinnen. Es muss reichlich blöd aussehen, wie wir beide ohne Stöcke die angewinkelten Arme schwingen.
»Ich stamme mütterlicherseits tatsächlich aus Indien. Aus Kalkutta, der
Stadt der Freuden
, das merkt man mir doch an, oder? Lach nicht, die Einheimischen nennen die Stadt wirklich so. Bevor ich sterbe, werde ich noch Kalkutta besuchen.«
»Heißt es nicht: Neapel sehen und sterben?«
»Gebt euch Mühe, im Rhythmus zu bleiben«, ruft Jean-Claude nach hinten. Er schiebt an schattigen Orten Pausen ein, fragt nach unserem Befinden, lobt die kleinsten Fortschritte. Nordic Walken sei nur eine Frage der Technik, »alles andere kommt von selbst«. Ungeduld kennt er nicht, er korrigiert ganz ruhig unsere Haltung und die Stockführung und muntert uns am Schluss der sportlichen Stunde auf: »Bitte, kommt morgen wieder! Euch zuliebe. Und mir zuliebe.«
Wir beiden Frauen spazieren alleine zurück ins Hauptgebäude. Die Unterhaltung geht bald über Smalltalk hinaus, zwischendurch bleiben wir stehen. Jutta ist direkt und unverfälscht. Als unser Gespräch in die Vergangenheit mündet, sagt sie: »Ich will mich doch nicht ans Passé vergeuden. Ich kann nur in meiner eigenen Freiheit wachsen, ohne jede Konzession.«
Ihre Art tut mir gut, öffnet auch mich: »Du bist zu beneiden, du scheinst völlig in der Gegenwart leben zu können, während ich von Tag zu Tag mehr in die Vergangenheit abgleite und …«
»Ja?«
»Und noch einmal von vorne beginnen möchte.«
»Das sagst du aber nicht im Ernst?«
»Warum nicht? Ich war nie so glücklich wie mit zwanzig, fünfundzwanzig. Damals glaubte ich noch, alles sei möglich.«
»Ist es auch! Man muss es nur wollen. Wirklich wollen.«
»Ich jedenfalls, ich habe aus meinem Leben nichts gemacht.«
»Wie eine Versagerin wirkst du aber nicht auf mich – bei aller Deprimiertheit, der man hier begegnet, bist du eine Ausnahme. Mag ja sein, dass du nur die Gesunde spielst. Auch recht. Wenn man etwas genug lange spielt, das heißt, es denkt und fühlt und sich entsprechend benimmt, dann kann man so werden, wie man will.«
»Bist du Psychologin?«
»Ich? Danke fürs Kompliment! Im Grunde genommen bin ich gar nichts … Nein, nein, lach nicht, das ist kein Witz. Ich habe meinen Eltern zuliebe ein Medizinstudium begonnen – aber bald hingeschmissen. Das ist lange her. Und du, sag mal, was machst du eigentlich? Bist du verheiratet, hast du Familie? Bist du berufstätig?«
»Ich unterrichte an einem Gymnasium Deutsch und Italienisch und bin ledig. Das heißt, eigentlich liiert …«
»Bis du lesbisch?«
»Sicher nicht. Wie kommst du denn auf diese Idee?«
»Du drückst dich so kompliziert aus.«
»Es ist zurzeit auch alles kompliziert.«
»Midlife-crisis also.«
»Ach was. Ich bin ja noch keine vierzig. Ich glaube nicht, dass es mit meinem Alter zu tun hat. Mehr mit der Einsicht, dass ich heute Mutter einer siebzehnjährigen Tochter sein könnte. Ich habe aus meinem Leben einfach nichts gemacht. Und jetzt ist es zu spät.«
»Hör doch auf, zu spät ist es nie für irgendetwas! Doch zurück zum Thema: Also, bist du nun liiert oder nicht?«
»Sagen wir es so: Weder verliebt noch verlobt, noch verheiratet, auch hat
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