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Yolo

Yolo

Titel: Yolo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisela Rudolf
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Unauffälligkeit einander gleichen. Lange habe ich mir gewünscht, etwas Besonderes zu sein. Dann wurde aus mir auch nur eine durchschnittliche Lehrerin, die sich ärgert, wenn sie im Großverteiler die Kundenkarte nicht bei sich hat, die keine Kehrichtabfuhr versäumt, auch alles andere tut oder lässt, was man so tut oder eben lässt.
    An meinem letzten Geburtstag hatte ich das Gefühl, die Jahre zögen ohne mich dahin.
    Das Verlangen nach jemandem, der mir sagen könnte, worum es geht und worauf es ankommt, drängt sich in mein Bewusstsein wie eine Krankheit, die sich nicht länger ignorieren lässt.
    Neben mir machen zwei Frauen einander Komplimente über die Frisur, über ihre Blusen, ihre Schals … Ein heiteres Spiel, das mit einem Patt endet. Die mit der violetten Strähne im Haar ruft die Serviertochter. Die mit der Vorliebe für grelle Farben zwinkert, »wir nehmen zwei Martini.«
    «Hier gibt es vor achtzehn Uhr keinen Alkohol«, sagt die Serviertochter gehässig, als hätten die beiden Heroin verlangt.
    Der Blick des Mannes mit der Zeitung streift mich ohne jedes Interesse, er sucht die Serviertochter. Sie steht hinter der Kaffeemaschine und telefoniert. Am Tisch bei der Garderobe hält sich ein Teenagerpaar die Hände. Der schlaksige Junge ist scheuer als das Mädchen. Hie und da macht es einen Kussmund, tippt auf seine Lippen und lächelt ihn an. Es könnte die Schwester von Sonja sein. Je mehr ich aufhören will, überall einen Bezug zu Sonja zu suchen, desto fixierter bin ich darauf. Der bestimmte Tonfall einer Frauenstimme, ein verwandter Name, wenn jemand links schreibt – unzählige Kleinigkeiten fallen mir im Alltag auf, an die ich mich zu halten versuche aus Angst, meine Erinnerungen könnten verblassen.
    Die Serviertochter hat fertig telefoniert, kassiert. Der Zeitungsleser verlässt das Lokal. Auch ich sollte längst zur Physiotherapie aufbrechen. Vorher will ich jedoch einen Text über Burn-out aus dem Journal reißen. Nicht reißen natürlich, das fiele auf; Zentimeter um Zentimeter ziehe ich das Blatt aus seiner Haftung – und tue so, als läse ich konzentriert den Artikel.
    Im Vorzimmer des Therapieraumes steht neben dem Plakat mit Akupunkturpunkten noch immer der Text:
Schönheit ist Selbstsicherheit, sie definiert sich vor allem über den Gang. Man sieht, wenn ein Mensch gut im Leben steht und glücklich ist, er versteht und bewegt sich anders
. Ich stehe auf und mache vor dem Spiegel ein paar Schritte auf mich zu …
    Da tritt Madame Grandjean aus dem Aufzug.
    »Ça va, ma belle?«
    »Et vous, comment allez vous?«
    »Warum fragen Sie misch das, sehe isch so schlescht aus?«
    »Mais non, mais non. Elegante comme toujours.«
    »Sie Schmeischlerin, Sie sind …«
    Mitten im Satz bricht sie ab. Das Lächeln gefriert, sie kneift die Augen zusammen, der Mund wird spitz – und plötzlich hält die Frau ihre Hände vors Gesicht und beginnt zu schluchzen.
    Ich lege meinen Arm um ihre Schultern: »Ça va, Madame Grandjean?«
    Aus schwarz verschmierten Augen schaut sie mich feindselig an: »Lassen Sie mich endlisch in Ruhe, isch ertrage aufdringlische Menschen nicht!«
    Glücklicherweise öffnet sich hinter ihr die Türe, und der Physiotherapeut bittet mich zu sich. Sein natürliches Lachen, der starke Händedruck, sein gesundes Selbstverständnis: Jean-Claude ist ein Happy Prince.
    »Bist du eigentlich immer derart positiv drauf«, frage ich ihn, während er mir die Schulter massiert.
    »Sicher dann, wenn ich eine junge schöne Frau unter meinen Händen habe. Aber wir wollen uns nicht unterhalten, spüre in deinen Körper, versuche, dorthin zu atmen, wo der Schmerz ist.«
    Jung
und
schön
. So fühle ich mich nicht. Aber es hört sich gut an.
    Glücklicherweise kann Jean-Claude nicht in mein Inneres sehen. In Abgründe jenseits aller Schönheit.
    Da die hintere Seite des Parks am späten Nachmittag im Schatten liegt, ist es wie vermutet: Kein Mensch weit und breit,
hier sind wir unter uns
. Habe ich diese Worte soeben laut gesagt? Ja doch, Verrückte sprechen gerne mit sich selbst …
    So weit darf es nicht kommen! Sonja, ich will bloß in Gedanken bei dir sein. Und du brauchst mir nicht zu antworten, sollst mir nicht antworten. Was könntest du mir anderes sagen, als dass ich feige bin? Ich habe nicht zustande gebracht, was dir gelungen ist. Wer sich nicht umbringt, schreit nur nach Hilfe.
    Wie viele deiner Hilfeschreie habe ich vor deinem endgültigen Schritt überhört?
    Beim Essen bleibt

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