Yolo
nicht, kommentieren nicht, antworten auch auf Fragen nicht, oder wenn, mit Sätzen, die sich wiederholen, nie ein Echo … Alles läuft hier drin ohne wahrhaftigen Bezug zum Gegenüber ab, alles völlig losgelöst von der Person, die Ihre Hilfe schon in Anspruch nähme – aber nicht so.«
»Wie denn?«
»Indem Sie mit mir normal reden, von Mensch zu Mensch.«
»Ich bin Arzt, ich kann für Sie keine Privatperson sein. Die berufliche Distanz …«
»Keine Angst, ich verliebe mich schon nicht in Sie.«
Der überhebliche Blick, mit dem Moeller meine Bemerkung quittiert, reizt mich: »Weshalb sind Sie eigentlich Psychiater geworden, wenn Sie die Menschen nicht wirklich mögen?«
»Frau Dornbach, jetzt haben wir einen Grad erreicht, der uns tatsächlich nicht weiterbringt. Noch einmal: Möchten Sie die Therapie abbrechen?«
»Sind Sie jetzt beleidigt? Müssen Sie von anderen Verrückten nicht viel mehr einstecken als von mir?«
»Sie sind nicht verrückt.«
»Weshalb bin ich dann hier, wenn ich normal bin?«
»Wollen Sie nun die Therapie fortsetzen oder nicht?«
»Muss ich das sofort entscheiden?«
»Nein, wenn Sie möchten, vereinbaren wir einen nächsten Termin, und Sie geben mir dann Bescheid.«
Es hat zu regnen begonnen, ist windig. Die Anlage ist bis auf den Gärtner menschenleer. Wie ich bei ihm vorbei spaziere, fragt er, ob er mir einen Schirm holen soll.
»Nein danke, das kühlende Nass tut mir gut.«
Gestern war es noch Sommer. Heute ist Herbst. Mein Sommer war nicht groß.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben
… In einer der letzten Deutschstunden schlug Sonja vor, verschiedene Herbstgedichte zu interpretieren. Es war Sommeranfang, und die Klasse brach in Gelächter aus.
Ich halte Ausschau nach Jutta. Sie ist die Einzige, die ich mir bei diesem Wetter im Park vorstellen kann.
An der Tafel im Foyer ist das neue Tagesprogramm zu lesen. Wenig anders als gestern, wohl dasselbe, und man hat nur die Reihenfolge geändert. Für mich zumindest bleibt wieder nur
Walking
übrig. Hinter mir geht mit dem bekannten Zweiklang die Haupttüre auf. Ein neuer Patient? Im Lichtkegel steht Feigenblatt. Neben ihm ein zweiter Feigenblatt: Sie gleichen sich wirklich aufs Haar. Einzig in der Kleidung unterscheiden sie sich; der mit dem dunkelgrünen Manchestersakko und dem karierten Schal muss unser Feigenblatt sein. Wer mich jedoch anlacht und auf mich zukommt, ist der Andere: »Hallo! Sie sind sicher Felizitas Dornbach.«
»Und Sie?«
»Ich bin Gabriels Bruder. He, willst du mich nicht vorstellen?«
Unser Feigenblatt bemüht sich um ein Lächeln. »Entschuldigung, das ist mein Bruder Martin.«
»Ihr Zwillingsbruder?«
Selbstverständlich nicht, aber etwas Besseres ist mir nicht eingefallen. Der kranke Feigenblatt ist mindestens fünf Jahre älter als dieser Martin. Trotzdem ist es der Jüngere, der nun väterlich den Arm um die Schulter seines Bruders legt.
»Sie kennen mich?«
»Ja, Gabriel hat mir von Ihnen erzählt.«
»Tatsächlich? Obwohl er unserem Tisch untreu geworden ist?«
»Das hat nichts mit Ihnen zu tun. Ich habe diesen Kroner einfach nicht mehr ertragen«, verteidigt sich der Angesprochene.
»Ja, er ist manchmal undiplomatisch, um nicht zu sagen grob. Haben Sie Ihre Kur beendet, ist Ihr Bruder hier, um Sie heimzuholen?«
»Nein, nein. Wir waren zusammen im Dorf und haben uns ein Bierchen gegönnt.«
»Und ich bin auf dem Weg dorthin«, fantasiere ich.
Nachdem ich meine Handtasche aus dem Zimmer geholt habe, mache ich mich tatsächlich auf den Weg ins Dorf, um nicht als Lügnerin entlarvt zu werden.
Das Leben außerhalb der Klinik ist ein netter Unterhaltungsfilm, ich darin ein unbescholtener Statist. Einzig die kreischenden Krähen in den Bäumen der Allee hätte der Regisseur ausblenden können. Zwei Biker grüßen mich freundlich, eine Frau hält ihren Wagen gar am Straßenrand an und fragt, ob ich mitfahren möchte. Aber ich gehe gerne zu Fuß weiter, Schritt für Schritt. Das tut gut.
Ein Mädchen auf seinem Dreirad läutet mit der Klingel, es strahlt seine Mama an, sie geht schmunzelnd hinter ihm über den Dorfplatz. Hie und da blickt die Kleine zurück und fragt: »Hörst du mich?«
Wo sind meine glücklichen Kindheitserinnerungen?
Der Tea-Room im Dorf ist eher Beiz als Café, gut besetzt, etwas eng. Am Ecktisch sitzt ein Mann, der wie ich die Zeitung liest. Das ist das Einzige, was uns von den anderen unterscheidet. Geradezu peinlich, wie wir alle in unserer
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