Young Sherlock Holmes 1
von der Fabrik, der Kleidung, dem Baron und den toten Männern wusste, konnte Sherlock auf Basis dieser Informationen einige Schlussfolgerungen ziehen. Er war nicht mehr auf reine Spekulationen angewiesen, sondern konnte nun mit ein paar wahrscheinlicheren Theorien aufwarten. Zum Beispiel: Zwei Männer, die mit einer Bekleidungsfabrik in Verbindung standen, waren gestorben, offensichtlich an den Pocken oder der Pest. Bedeutete das, dass die Textilien selbst irgendwie verseucht gewesen waren? Nach dem, was er bei der gelegentlichen Lektüre der Zeitungen seines Vaters aufgeschnappt hatte, glaubte Sherlock zu wissen, dass ein Großteil der Kleidung in den Textilstädten Nordenglands, Schottlands und Irlands produziert wurde. Ferner hatte er gehört, dass ein Teil auch aus dem Ausland importiert wurde. Aus China, wenn es sich um Seide handelte, und vielleicht auch Indien, wenn es um Baumwolle oder Musselin ging.
Vielleicht war aus einem dieser fernen Länder eine verseuchte Ladung nach Großbritannien gelangt. Oder womöglich war die Fracht von Insekten befallen gewesen, die diese Krankheit in sich trugen, und die Arbeiter in den Fabriken hatten sich damit angesteckt. Das war eine mögliche Erklärung, und Sherlock verspürte das dringende Bedürfnis, jemandem davon zu erzählen. Zuerst dachte er dabei an seinen Onkel, doch er verwarf diese Idee gleich wieder. Sherrinford Holmes mochte zwar ein Erwachsener sein, aber er war auch etwas weltfremd und würde Sherlocks Theorie wahrscheinlich rundweg verwerfen. Einen Moment lang verließ ihn der Mut. Wen hatte er noch?
Dann fiel ihm Mycroft ein. Er könnte alles aufschreiben und seinem Bruder einen Brief schicken. Mycroft arbeitete für die britische Regierung. Er würde wissen, was zu tun war.
Er spürte, wie sich allein beim Gedanken an den verlässlichen Mycroft der beklemmende Knoten in seiner Brust etwas zu lösen begann. Aber gleich darauf stellte sich ihm unversehens die Frage, was genau Mycroft in dieser Angelegenheit tun konnte. Seine Arbeit im Stich lassen und nach Farnham eilen, um die Ermittlungen zu übernehmen? Die Armee entsenden? Viel wahrscheinlicher würde er Onkel Sherrinford einfach ein Telegramm schicken, das Sherlock wieder auf den Teppich bringen sollte.
Als Sherlock aus dem Haus in das helle Morgenlicht hinaustrat, blieb er einen Moment lang stehen, um nach Luft zu schnappen. Er nahm den Geruch von Holzrauch und frisch gemähtem Gras wahr, und auch die modrigen Ausdünstungen der Brauereien in Farnham waren noch schwach zu riechen. Die Sonne, die gerade hinter den Baumspitzen auftauchte, hüllte das Laub in goldenes Licht und zauberte bizarre Blätterschattenbilder auf den Rasen vor ihm, die aussahen wie ausgestreckte Finger.
Doch es war noch eine andere Schattenfigur zu sehen: eine, die sich bewegte. Sein Blick folgte der Figur über den Rasen hinweg bis zur Mauer, die das Haus und die angrenzenden Ländereien von der Straße trennte. Dort, auf der anderen Seite der Mauer, erkannte er eine Gestalt auf einem Pferd. Sie schien ihn zu beobachten. Als er die Hand hob, um die Augen vor der blendenden Sonne zu beschirmen, spornte der Reiter das Pferd an. Daraufhin trabte es auf der Straße davon und verschwand schließlich hinter einer hohen Hecke.
Sherlock ging auf das Haupttor zu. Von Ross und Reiter war keine Spur mehr zu sehen. Aber wenn er Glück hatte, würde er dort einen Hufabdruck vorfinden. Oder vielleicht hatte der Reiter etwas fallen gelassen, wodurch Sherlock in der Lage wäre, ihn zu identifizieren.
Doch er stieß weder auf eine Hufspur noch auf einen fallengelassenen Gegenstand. Dafür aber auf Matthew Arnatt, der draußen neben dem Tor saß und mit zwei Hochrädern auf ihn wartete.
»Wo hast du denn die aufgetrieben?«, fragte Sherlock.
»Gefunden. Dachte, du hast vielleicht Lust auf ’ne Spritztour. Ist bequemer als gehen und man kommt viel weiter.«
Sherlock starrte ihn einen Moment lang an. »Warum?«
Matty zuckte die Achseln. »Hab nichts anderes vor.« Er hielt inne und wandte den Blick in die Ferne. »Hatte daran gedacht, die Leinen loszuwerfen, und mit dem Boot ein Stückchen den Kanal weiter runterzuschippern. Aber das heißt für mich nur, dass ich wieder neu in einer anderen Stadt anfangen muss. Rauskriegen, wo man am besten an Essen kommt und all so was. Hier kenn ich zumindest ein paar Leute. Na ja, ich kenn dich.«
»In Ordnung. Ich könnte etwas Bewegung vertragen. Nach gestern sind meine Muskeln völlig
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