Young Sherlock Holmes 1
Sonne auf. Erst der Gong, mit dem eines der Dienstmädchen zum Frühstück rief, riss ihn aus seinem komatösen Zustand. Damit blieben ihm nicht einmal zehn Minuten Zeit, um sich für den Tag fertig zu machen.
Glücklicherweise hatte eines der Dienstmädchen ihm bereits eine Schüssel mit Wasser aufs Zimmer gebracht, ohne ihn zu wecken. Er spritzte sich ein bisschen Wasser ins Gesicht, griff nach dem aus Tierknochen gefertigten Zahnbürstenstiel und streute Kalkpuder mit Zimtgeschmack auf die Schweineborsten des Bürstenkopfes. Nach dem Zähneputzen zog er sich rasch an. Er würde sich darum kümmern müssen, dass seine Kleidung bald gewaschen wurde, da er kaum noch etwas Sauberes zum Wechseln hatte.
Als er die Treppe hinunterflitzte, warf er einen Blick auf die Standuhr in der Halle. Sieben Uhr. Gerade noch geschafft!
Er eilte in das Speisezimmer. Den finsteren Blick von MrsEglantine ignorierend, musterte er den mit Speiseplatten und Gerichten bestückten langen Büfettisch, der die eine Seite des Raumes einnahm. Sherlock füllte sich eine Portion Kedgere auf. Ein leckeres Gericht aus Reis, Eiern und geräuchertem Schellfisch, von dem er vor seiner Ankunft in Holmes Manor noch nie gehört hatte, für das er aber allmählich eine Vorliebe entwickelte. Er versuchte nach Kräften, jeden Augenkontakt zu meiden, und schaufelte sich das Essen so schnell in den Mund, dass er kaum etwas schmeckte. Er war völlig ausgehungert. Die Ereignisse des Vortages hatten ihm eine Menge Energie abverlangt und die musste nun ersetzt werden. Onkel Sherrinford las ein religiöses Traktat beim Essen und Tante Anna redete wie immer mit sich selbst. Soweit Sherlock es beurteilen konnte, wurde jeder Gedanke, der ihr gerade in den Kopf kam, auf der Stelle artikuliert, ob er nun wichtig war oder nicht.
»Sherlock«, sagte sein Onkel und blickte von seiner Broschüre auf, die er las. »Mir ist zu Ohren gekommen, dass du gestern in einen unglückseligen Vorfall verwickelt warst.« Porridgereste zierten seinen langen Bart.
Einen Moment lang war Sherlock wie gelähmt. Er fragte sich, wie sein Onkel von dem Lagerschuppen und dem Feuer erfahren haben konnte. Aber dann wurde ihm klar, dass Sherrinford von der Leiche sprach, die Amyus Crowe und er im Wald gefunden hatten. »Ja, Onkel«, erwiderte er.
»Dem Menschen vom Weibe geboren, bleibt nur kurze Zeit«, begann Sherrinford zu intonieren. »Er ist voll des Elends. Wie eine Blume blüht und verwelkt er, vergeht wie ein Schatten, ohne lange an einem Ort zu verweilen.« Sherrinford fixierte ihn mit durchdringendem Blick und fuhr fort. »Obwohl mitten im Leben, sind wir doch stets vom Tod umweht: Wer könnte uns Hilfe bringen, als Du, oh Herr allein, den wir durch unsere Sünden erzürnet haben.«
Unsicher, was er darauf antworten sollte, nickte Sherlock nur, als ob er genau verstand, worüber sich sein Onkel gerade ausließ.
»Du hast ein behütetes Leben bei meinem Bruder und seiner Frau genossen«, sagte Sherrinford. »Alles, was mit Tod und Sterben zu tun hat, mag bisher vielleicht an dir vorbeigegangen sein, aber sie sind natürliche Bestandteile von Gottes Plan. Lass dich dadurch nicht ängstigen. Wenn du mal reden musst, steht die Tür meines Studierzimmers immer für dich offen.«
Sherlock war gerührt, dass Onkel Sherrinford – wenn auch in seiner ganz eigenen Art und Weise – versuchte ihm zu helfen. »Danke«, erwiderte er. »Hat der Mann, den wir gefunden haben, eigentlich hier oder draußen auf dem Anwesen gearbeitet?«
»Ich glaube, er war Gärtner«, sagte Sherrinford. »Ich kann nicht behaupten, dass ich ihn gekannt habe. Aber wir werden ihn und seine Familie in unsere Gebete einschließen. Wir werden seine Angehörigen unterstützen.«
»Er war noch neu«, fügte Tante Anna hinzu. »Ich glaube, er hatte gerade erst bei uns angefangen. Vorher hat er Bekleidung in einer Textilfabrik in Farnham angefertigt, die einem Earl oder Viscount oder irgendeinem anderen Angehörigen der Aristokratie gehört. Die Referenzen des Mannes waren exzellent …«
»Wie ist er gestorben?«, fragte Sherlock, während seine Tante einfach still weiter vor sich hinplapperte.
»Das ist kein angemessenes Gesprächsthema während des Frühstücks«, ließ sich MrsEglantine von ihrem Standort am Büfettisch aus vernehmen.
Sherlock warf ihr einen raschen Blick zu. Sowohl die dreiste Kühnheit ihrer Worte als auch die Tatsache, dass sein Onkel und seine Tante sie nicht zurechtgewiesen hatten,
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