Young Sherlock Holmes 1
stilles Plätzchen im Wald außerhalb von Farnham gesucht. Von dort aus konnte er sehen, wie das Gelände vor ihm zu einem Pfad abfiel, der sich wie ein trockenes Flussbett durch das Unterholz schlängelte, bis er außer Sicht verschwand. Drüben auf der anderen Seite der Stadt lugte, an den Hang eines Hügels geschmiegt, eine kleine Burg zwischen den Bäumen hervor. Außer Sherlock war niemand da. Er hatte schon so lange einfach nur still dagesessen, dass sich sogar die Tiere an ihn gewöhnt hatten. Hin und wieder raschelte es im hohen Gras, wenn eine Maus vorbeihuschte, und über ihm am blauen Himmel zogen Habichte träge ihre Kreise. Geduldig warteten sie darauf, dass irgendein kleines Tier dumm genug war, sich auf freies Feld zu begeben.
Hinter ihm fuhr der Wind durch die Blätter der Bäume. Er ließ seine Gedanken schweifen und versuchte, weder an die Zukunft noch an die Vergangenheit zu denken. Er wollte einfach nur im Hier und Jetzt leben, solange es irgend ging. Die Vergangenheit schmerzte wie eine Wunde, und die unmittelbare Zukunft gehörte nicht zu den Dingen, die er sich rasch herbeiwünschte. Die einzige Möglichkeit, sich nicht unterkriegen zu lassen, bestand darin, nicht darüber nachzudenken. Sich einfach nur im Wind treiben zu lassen, während sich die Tiere um ihn herum tummelten.
Er lebte jetzt bereits drei Tage auf Holmes Manor, und die Dinge waren seit seinem ersten Erlebnis keinen Deut besser geworden. Das Schlimmste jedoch war MrsEglantine.
Als allgegenwärtiges Schreckgespenst lauerte die Hauswirtschafterin selbst in den abgelegensten Winkeln des Hauses. Wohin auch immer er sich wandte, stets schien sie schon in irgendwelchen dunklen Schatten auf ihn zu warten, um ihn mit ihren runzeligen Äuglein zu taxieren. Seit seiner Ankunft hatte sie kaum drei Sätze zu ihm gesprochen. Soweit er es beurteilen konnte, erwartete man von ihm nichts anderes, als pünktlich zum Frühstück, Mittagessen, Nachmittagstee und Abendessen zu erscheinen. Natürlich schweigend und ohne mehr zu essen als unbedingt nötig, um sich gleich danach wieder bis zur nächsten Mahlzeit in Luft aufzulösen. Nach diesem Schema würde sein Leben bis zum Ende der Ferien verlaufen. Bis Mycroft käme, um ihn aus seiner Haft zu erlösen.
Anna und Sherrinford Holmes – seine Tante und sein Onkel – waren normalerweise beim Frühstück und Abendessen anwesend. Sherrinford war ebenso groß wie sein Bruder und trotz seiner schlankeren Statur zweifellos eine dominante Erscheinung. Er hatte markante Wangenknochen und eine nach vorn gewölbte Stirn, die seitlich an den Schläfen einfiel. Im Gegensatz zu seinem buschigen weißen Bart, der bis auf die Brust herabfiel, war seine Kopfbehaarung so spärlich, dass es für Sherlock so aussah, als wäre jede einzelne Haarsträhne sorgfältig auf die Kopfhaut gemalt und dann mit einer Schicht Glanzlack überzogen worden. Zwischen den Mahlzeiten verschwand er entweder in sein Arbeitszimmer oder in die Bibliothek. Den spärlichen Konversationsfetzen nach zu schließen, die Sherlock aufgeschnappt hatte, verfasste er dort religiöse Broschüren und Predigten für Gemeindepfarrer aus dem ganzen Land. Der einzig nennenswerte Wortwechsel mit seinem Onkel während der letzten drei Tage hatte beim Mittagessen stattgefunden. Plötzlich hatte Sherrinford von seinem Teller aufgeschaut, Sherlock mit Unheil verkündendem Blick fixiert und dann gefragt: »Wie ist es um deine Seele bestellt, Junge?« Sherlock, mit erhobener voller Gabel vor dem Mund, hatte kurz geblinzelt und sich dann glücklicherweise an MrTulley, seinen Lateinlehrer in Deepdene, erinnert.
»Extra ecclesiam nulla salus«
, verkündete Sherlock, ziemlich sicher, dass das so viel bedeutete wie: »Außerhalb der Kirche ist keine Erlösung.«
Das schien zu funktionieren. Denn Sherrinford Holmes nickte und murmelte »Ah, der heilige Cyprian von Karthago, natürlich«, um sich dann wieder seinem Teller zuzuwenden.
MrsHolmes – beziehungsweise Tante Anna – hingegen war eine kleine, vogelähnliche Frau, die sich in einem Zustand permanenter Bewegung zu befinden schien. Selbst wenn sie saß, flatterten ihre Hände unermüdlich umher, ohne irgendwo länger als eine Sekunde zu verweilen. Dabei redete sie die ganze Zeit, ohne jedoch wirklich
mit
jemandem zu reden, so weit es Sherlock beurteilen konnte. Sie schien es einfach zu genießen, einen ewigen Monolog zu führen, und sie schien nicht zu erwarten, dass sich jemand daran beteiligte oder
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