Young Sherlock Holmes 1
Themseufer säumte. Er verspürte ein Prickeln im Nacken, normalerweise ein untrügliches Zeichen dafür, dass er beobachtet wurde. Aber er zwang sich dazu, das Gefühl zu ignorieren. Denny war mittlerweile vermutlich bei einem Doktor oder Wundarzt, vorausgesetzt, dass sein Kiefer wirklich gebrochen war. Und was die anderen Männer anbelangte, so standen die Chancen ziemlich gut, dass sie gar nicht einen so genauen Blick auf ihn hatten werfen können. Jedenfalls nicht so genau, dass sie in der Lage gewesen wären, ihn von anderen Kindern zu unterscheiden. Vor allem jetzt, da er über und über mit Dreck, Ruß, Rattenhaaren und allen möglichen anderen Dingen bedeckt war, die er sich lieber nicht genauer ausmalen wollte. Sie saßen eine gute halbe Stunde lang auf der Mauer, plauderten zwanglos über dieses und jenes und wurden allmählich zu einem Teil der Umgebung. Schließlich hatte der Lade- oder Kaimeister, oder was auch immer er war, seine Arbeit am Schiff erledigt und schickte sich an, in ihre Richtung zurückzugehen. Als er an ihnen vorbeikam, blickte Sherlock auf und sagte: »Hey, Boss. Gibt’s hier im Hafen Chance auf Arbeit?«
Der Mann musterte geringschätzig Sherlocks hagere Gestalt. »Komm in fünf Jahren wieder, Sohn«, sagte er in nicht ganz unfreundlichem Ton. »Sieh zu, dass du ein paar Muskeln auf dein dürres Gerippe kriegst.«
»Aber ich muss aus London verschwinden«, flehte Sherlock eindringlich. »Ich kann hart arbeiten. Ehrlich. Kann ich wirklich.«
Er zeigte auf das Schiff in der Nähe. »Was ist denn mit denen? Die sehen aus, als hätten se zu wenig Leute.«
»Haben sie«, bestätigte der Mann. »Heute Nachmittag sind drei zu wenig gekommen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass du für einen von denen einspringen kannst. Und außerdem: Der Kahn wird dich nicht sehr weit aus London fortbringen.«
»Warum nicht?«, fragte Sherlock.
»Der segelt nur nach Frankreich und dann gleich wieder zurück. Kein Landgang für die Crew.« Er lachte. »Wenn du dich für ’ne Weile verkrümeln möchtest, tret’ doch in die Navy ein. Oder häng hier einfach lange genug rum, bis eins ihrer Presskommandos kommt und dich fortschleppt.«
Immer noch lachend zog er davon.
»Frankreich«, sagte Sherlock fasziniert. »Interessant.«
»Wie ich höre, wollt ihr euch unserer Crew anschließen«, rief eine Stimme vom Bug des Schiffes aus. Sherlock verzog das Gesicht zu einer Grimasse und blickte in eine andere Richtung. Aber die Stimme sprach weiter: »Warum kommst du mit dem Mädchen nicht einfach an Bord? Ja, wir wissen nämlich, dass es ein Mädchen ist. Haben euch beobachtet, seit ihr hier aufgetaucht seid. Was denn? Habt ihr etwa gedacht, ihr wäret unsichtbar?«
Sherlock blickte den Kai entlang zu der Stelle, wo der Lademeister stehengeblieben war und zu ihnen zurückblickte. Sein Gesichtsausdruck war mitleidig, aber entschlossen. Von ihm war keinerlei Hilfe zu erwarten.
Sherlock glitt von der Mauer, nahm Virginias Hand und half ihr herunter. »Zeit zu gehen«, sagte er. Aber als er sich umdrehte, sah er sich unversehens einem Halbkreis von Seeleuten und Hafenarbeitern gegenüber, die wie aus dem Nichts aufgetaucht zu sein schienen.
Virginia mit sich ziehend, versuchte er wegzurennen. Aber schwere Hände packten ihn und zerrten ihn von ihr fort. Er stolperte, die Hände hielten ihn jedoch mit eisernem Griff auf den Beinen. Er sah, dass auch Virginia stolperte. Doch im nächsten Augenblick nahm er nur noch eine Hand wahr, die mit einem zusammengeknüllten Stoffballen in der Innenfläche auf ihn zugeschossen kam und sich auf sein Gesicht presste. Ein schwerer, bitterer Medizingeruch drang ihm in die Nase. Dann stürzte er plötzlich in ein bodenloses Loch, das exakt die Farbe von Virginias Augen hatte. Ein abgrundtiefer Schlaf und entsetzliche Träume warteten auf ihn.
14
In seinen Träumen kämpfte Sherlock mit einer riesigen Schlange. Ihr Körper war so dick wie ein Bierfass und bestand, soweit er es sehen konnte, nur aus Muskeln und Rippen. Ihr Kopf sah aus wie ein flaches Dreieck mit zwei sägeartigen Zähnen an den Seiten. Sie kämpften irgendwo im Wasser, aber in seinem Traum war das Wasser so dick und schwarz wie Rübensirup. Die Schlange ringelte sich langsam um seinen Körper und zog sich zusammen, um seine Rippen zu brechen. Aber das zähflüssige Wasser erschwerte ihre Bewegungen, und Sherlock war in der Lage, den um ihn gewundenen Körper auseinanderzudrücken, indem er sich mit Armen
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