Young Sherlock Holmes 3
starrte, konnte er winzige Augen schimmern sehen, die ihm in der plötzlichen Helligkeit entgegenblinzelten.
Er trat auf den Jungen zu. Entschlossen packte er ihn am Handgelenk, drehte ihn herum und stieß in den Spalt. »Er hat mein Geld!«, rief er. »Er hat es in der Hand!«
Einen Moment lang starrte der Junge entsetzt zu Sherlock zurück, bevor er von einem Gewimmel winziger Hände in die Dunkelheit gezerrt wurde. Sherlock hörte, wie er schrie. Dann folgte nichts mehr, sah man von Kampfgeräuschen und dem Laut zerreißenden Kleidungsstoffes ab.
Sherlock rannte los. Während sie abgelenkt waren, hatte er eine Chance zu entkommen.
So schnell es ihm die müden Muskeln und sein immer noch knapper Atem erlaubten, eilte er zwischen den Sargreihen hindurch. Wenige Augenblicke später hatte er die beklemmende Enge der Reihen hinter sich gelassen und befand sich in einem offenen Bereich.
Vor sich erblickte er drei Dampfzüge, die sich jeweils am Ende eines Schienenstranges dicht gegen einen Prellbock drängten. Sie sahen wie der Zug aus, der ihn und Amyus Crowe nach London gebracht hatte, abgesehen davon, dass Lokomotive und Waggons schwarz gestrichen waren.
Auf der Vorder- und Rückseite jedes Waggons war zudem ein weißer Totenschädel aufgemalt, unter dem zwei gekreuzte Knochen prangten.
Sherlocks Vermutung nach fuhren diese Züge nur nach Einbruch der Dunkelheit. Denn sicher wäre es für jeden eine verstörende Erfahrung, so etwas am helllichten Tag zu Gesicht zu bekommen.
Er warf einen Blick über die Schulter zu den Sargreihen zurück. In den Schatten, die sie umgaben, meinte er das Schimmern von Augen zu erkennen – Augen, die ihn beobachteten. Aber er war sich nicht sicher. Die Hauptsache war, dass sie ihn nicht weiter verfolgten.
Wie es aussah, würden sie nicht hinaus ins Licht treten, und er würde sich mit Sicherheit nicht in die Finsternis zurückbegeben. Es war vorbei. Jedenfalls fürs Erste.
Als er sich umwandte und einen Schritt vorwärts machte, knirschte etwas unter seinen Füßen. Er blickte hinab und sah ein weißes Stück Knochen unter seinem Schuh hervorragen. Er war aus Versehen daraufgetreten und hatte ihn in zwei Stücke zerbrochen.
Manchmal kommt es vor, dass Särge runterkrachen
, hatte der wilde Junge gesagt.
Und zerdeppern.
Vermutlich wurden die Inhalte zuweilen einfach da liegengelassen, wo sie zu Boden gefallen waren. All dieser kostspielige Aufwand für die Toten – Spezialzüge, eine riesige Totenstadt in Brookwood – und trotzdem ließ man die sterblichen Überreste einfach dort verrotten, wo der Sarg zu Bruch gegangen war.
Es kam ihm vor, als wäre das äußere Spektakel wichtiger als die Wirklichkeit, die sich dahinter verbarg. Die Trauernden wussten nicht – oder scherten sich vielleicht nicht einmal darum –, ob sich das Familienmitglied, das sie gerade verloren hatten, auch wirklich im Sarg befand, wenn er verscharrt wurde.
Irgendwo hinter den Zügen mussten die Schienen hinaus ins Freie führen. Eine Brise wehte herein und trug den Gestank der Katakomben davon. Erschöpft schleppte Sherlock sich auf das schwache Sonnenlicht zu. Irgendwo da draußen, in der realen Welt, sah Mycroft sich immer noch mit einer Mordanklage konfrontiert, und Sherlock musste helfen, seinen Namen reinzuwaschen. Er war erschöpft und ihm tat jeder Knochen im Leib weh, aber das spielte keine Rolle. Mycroft brauchte seine Hilfe.
Er war so tief in Gedanken versunken, dass er ein paar Sekunden brauchte, bis er richtig begriff, dass der Mann mit dem strähnigen Haar gerade hinter einer der Lokomotiven hervorgetreten war.
»Kein Entkommen, Bürschchen«, sagte er und hob die Hände. Das schwache Sonnenlicht spiegelte sich matt in den Stacheln seiner Schlagringe. »Und wie’s aussieht, hab ich doch tatsächlich auch noch eine Half-Crown gespart.«
6
Sherlock spürte, wie ihn schlagartig der Mut verließ. All die Anstrengung, all das Gerenne und erniedrigende Gekrieche durch enge, finstere Spalten, und trotzdem war er nicht entkommen. Er war zu müde, um noch etwas zu unternehmen. Er hatte jegliche Energie verloren.
»Wie haben Sie mich gefunden?«, keuchte er.
»Na, durch die Lüftungsspalten konnte ich dir ja wohl kaum folgen, oder?«, erwiderte der Mann. »Aber ich wusste, dass die meisten von ihnen hierher zu den Knochenhöfen führen. Also bin ich einmal außen ums Gebäude rum und habe gewartet. Ich wollte schon aufgeben, als ich gehört habe, wie du dich da rausgequetscht hast.« Er
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