Young Sherlock Holmes 4
man meinen, dass sie zum Himmel stinken müssten. Doch alles, was er riechen konnte, war Schweiß. Also waren es keine Toten. Nur Männer, die
aussahen
, als wären sie tot. Aber
warum
? Und was hatten sie mit Virginia gemacht?
Er ließ den Blick sinken, dorthin, wo ihre dürren Hände sich in seine Schultern krallten … und weiße Flecken auf dem Jackenstoff hinterließen! Make-up? An ihren
Händen
? Er stieß einen erleichterten Seufzer aus. Er hatte nicht wirklich angenommen, dass sie tot waren. Aber es war eine Erleichterung, die eigenen Schlussfolgerungen bestätigt zu sehen. Vermutlich ergab das alles einen Sinn: Wollte man die Leute glauben machen, man wäre tot, musste man die Sache auch glaubwürdig aufziehen. Weiße Hände und weiße Gesichter implizierten eine mangelnde Blutzirkulation. Sahen die Leute sie nur aus der Ferne, so wie Sherlock bis zu diesem Moment, war das Ganze durchaus überzeugend.
Sie trugen ihn bergab von Cramond fort. Während er beim Tragen kräftig durchgerüttelt wurde, bot sich ihm hin und wieder ein Blick auf die kopfstehenden Gesichter seiner Entführer. So aus kurzer Distanz konnte er Bartstoppeln erkennen, die aus dem weißen Make-up auf Wangen und Hals hervorstachen. Ebenso sah er nun, dass auf einigen Hautstellen dünne Papierstückchen klebten, die wirkten wie trockenes, sich abschälendes Fleisch. Geschickte Abtönungen erweckten zudem den Eindruck, dass die Gesichtsknochen aus der Haut hervorstachen, und einer von ihnen hatte sich Konturen auf die Wangen gemalt, die aus der Entfernung bestimmt aussahen wie die Zähne eines grinsenden Totenschädels. Das Ganze war nichts als Theater. Eine Verkleidungsposse.
»Sagt mir, wohin wir gehen!«
Der ›Tote‹, der seinen rechten Arm gepackt hatte, blickte auf ihn herab und grinste. Seine Zähne waren von einer grünen, an Moos erinnernden Schicht bedeckt. Aber sogar das war Make-up. »Du kommst mit uns«, knurrte er mit einer Stimme, die klang, als würde sie durch Schlamm hindurch blubbern.
»Sie sind nicht tot«, sagte Sherlock. »Sie tun nur so als ob.«
Der ›Tote‹ grinste unverdrossen weiter. »Bist du dir da so sicher?«, fragte er. »Würdest du dein Leben darauf verwetten?«
Darauf hatte Sherlock keine Antwort parat.
Noch etwa eine Stunde lang schleppten sie ihn weiter über unwegsames Gelände. Fortlaufend versuchte er, das, was um ihn herum geschah, im Auge zu behalten, in der Hoffnung, vielleicht Virginia zu sehen. Doch falls sie ebenfalls getragen wurde, musste sie sich irgendwo weiter vor ihm außer Sichtweite befinden. Er hoffte jedoch, dass ihr die Flucht gelungen war.
Schließlich wurde er auf den Rücken eines Pferdes geworfen. Arme und Beine wurden mit einem Seil zusammengebunden, das seine Entführer unter den Bauch des Tieres schlangen. Dann banden sie Sherlock mit seinem Gürtel hinten am Sattel fest, so dass er beim Reiten nicht heruntergleiten konnte. Gleich darauf bestieg einer der ›Toten‹ auch schon das Pferd, und sie galoppierten davon.
Die unablässigen Stöße, mit denen das Hinterteil des Pferdes ihm in den Magen fuhr, und der strenge Geruch des Tieres ließen Übelkeit in Sherlock aufsteigen. Zu allem Überfluss stand er trotz der Gürtelsicherung permanent kurz davor, unter den Bauch des Pferdes zu gleiten, wo dessen mächtige Beine wieder und wieder auf ihn einstampfen würden, bis er sich jeden Knochen im Leib gebrochen hätte. So fest wie möglich presste er Arme und Beine gegen den Körper des Tieres, um sich oben zu halten.
Sein Kopf hüpfte so stark auf und ab, dass er nicht erkennen konnte, was gerade an ihnen vorbeihuschte. Trotzdem hatte er den vagen Eindruck, dass sich vor und hinter ihm weitere Pferde befanden. War Virginia etwa auf einem davon? Als seine Qualen immer schlimmer wurden, schickte er ein Stoßgebet zum Himmel, dass sie es nicht sein möge.
Das lärmende Geräusch, das die Pferdehufe verursachten, veränderte sich. Sie ritten nun nicht mehr über Erd-, sondern über Steinboden dahin. Echos drangen an sein Ohr, als wären sie von Hunderten von Pferden umgeben. Sie befanden sich mitten in einer Art befestigtem Innenhof. Die Pferde kamen zum Stehen. Sherlock wurde nach vorne geworfen, und der Sattel stieß ihm so heftig gegen die Rippen, dass ihm die Luft wegblieb.
Hände packten ihn. Ein Messer durchtrennte die Seile, die ihn auf dem Pferd gehalten hatten. Dann wurde er wieder getragen. Erneut mit dem Kopf nach unten. Zu schwach und benommen, um auch nur den
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