Young Sherlock Holmes 4
er sie beide gleichgültig aus seinen Gedanken verbannt hatte, um sich ungestört dem Heidekraut zu widmen, wurde Sherlock auf einmal bewusst, dass er Hunger hatte. Nein, falsch, er war am
Verhungern
. Denn abgesehen von den Haferkeksen in Amyus Crowes Cottage hatte er seit dem Frühstück nichts mehr gegessen.
Virginia biss sich vor Anspannung auf die Unterlippe. Wie es aussah, hatte auch sie Hunger.
Was waren seine Optionen? Sollte er versuchen, ein Kaninchen zu jagen, wenn sie das nächste Mal eines aus seinem Versteck aufscheuchten? Unwahrscheinlich, dass er dabei Erfolg hatte. Oder vielleicht besser mit Mattys Messer werfen – in der Hoffnung, damit das Kaninchen zu treffen? Er wusste nicht viel vom Messerwerfen, auch wenn er es schon einmal auf Jahrmärkten gesehen hatte. Aber seiner Vermutung nach mussten die Messer sorgfältig ausbalanciert sein, damit sie glatt durch die Luft wirbelten und sich schließlich mit der Spitze ins Ziel bohrten. Mattys Messer hatte einen Griff, der viel massiver war als die Klinge. Damit würde er wohl kaum richtig treffen können.
Er erinnerte sich an die allererste Lektion, die Amyus Crowe ihm erteilt hatte, damals in Hampshire in den Wäldern um Holmes Manor. Crowe hatte Sherlock gezeigt, welche Pilze man essen konnte und welche giftig waren. Wenn er ein paar Pilze finden könnte, hätten sie etwas zu essen. Er blickte sich um. Hier in der offenen Moorlandschaft war die Chance, welche zu finden, allerdings nicht sehr groß. Aber wenn sie in den Wald kamen, ließen sich vielleicht welche auf vermodernden, halb von Laub begrabenen Baumstämmen finden.
Er hob den Blick, um zu sehen, wie weit sie noch vom Wald entfernt waren. Seiner Schätzung nach befand sich der Waldrand noch ungefähr eine halbe Meile entfernt.
»Sieh mal«, sagte Virginia plötzlich. »Dort könnten wir heute Nacht schlafen.«
Sherlock folgte der Richtung, in die sie zeigte. Zuerst sah er nichts, doch dann machte er ein kleines Steingebäude im Schatten des Waldrandes aus. Eine Sekunde dachte er, dort würde jemand wohnen. Aber einen Augenblick später erkannte er, wie klein es war. Zudem wiesen die Fensteröffnungen weder Glasscheiben auf, noch versperrte eine Tür den Eingang. Es war eine einfache Hütte, gebaut, um Schäfern bei Unwetter einen Unterschlupf zu bieten.
»Gut erkannt«, sagte er.
»Irgendeine Chance, dass wir was zu essen kriegen?«, fragte Virginia. »Ich bin fast am Verhungern nach der ganzen Wanderei.«
Sherlock dachte einen Moment nach. Vermutlich konnte er Virginia gefahrlos eine Weile allein lassen, während er sich auf die Pilzsuche machte.
Er erzählte ihr, was er vorhatte. Skeptisch sah sie ihn an. »Pilze? Willst du mich vergiften?«
»Vertrau mir – dein Dad ist ein guter Lehrer.«
Sie hob eine Augenbraue. »Er mag ein guter Lehrer sein, aber bist du sicher, dass er auch immer weiß, wovon er redet?«
»Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden.«
»Hör mal, warum sammel ich nicht einfach etwas Holz und mach uns ein Feuer, während du versuchst, ein paar Pilze aufzutreiben? So sparen wir Zeit.«
»Bist du sicher, dass du klarkommst? Schließlich sind da ein paar Typen hinter uns her.«
Wieder hob sie eine Augenbraue. Und starrte ihn an. »Ich kann gut auf mich allein aufpassen.«
Nachdem das geklärt war, nahmen sie als Erstes die Steinhütte unter die Lupe. Es handelte sich nur um einen einzigen Raum, in dessen Ecken sich hereingewehtes Laub angesammelt hatte. Aber auf den ersten Blick schien sie sicher zu sein. Es gab sogar eine kleine Feuerschale, in der sich Holz verbrennen ließ, sowie eine kleine Sammlung ramponierter Pfannen und Blechteller.
»Bleibst du lange weg?«, fragte sie.
Er zuckte die Achseln. »So lange wie nötig. Du willst doch auch was zum Abendessen, oder?«
Sie lächelte. »Bisher ist noch kein Mann für mich losgezogen, um das Abendessen zu besorgen, mal abgesehen von meinem Pa. Ist irgendwie schön.«
»Wie sieht’s aus mit Abendessen
kaufen
?«, konnte Sherlock sich die Frage nicht verkneifen. »Hat das schon mal jemand für dich gemacht? Außer Mr Crowe, meine ich?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Oder dir was zum Abendessen
kochen
?«
»Auch nicht.«
Er lächelte. »Ich bin, so schnell ich kann, wieder zurück.«
Innerhalb weniger Augenblicke war er zwischen den Bäumen verschwunden – Stämmen, so dick wie sein Körperumfang, die sich aus einem Gewirr von Wurzeln dem Himmel entgegenreckten und dort mit ihren Ästen
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