Young Sherlock Holmes 4
entfacht hatte. Im Licht des Feuers sah er, dass sie zusammengerollt auf dem Boden lag und schlief. Sie hatte draußen Schilf- oder Reethalme gesammelt und sie unter ihrem Kopf zu einem Kissen angehäuft, und auch für Sherlock lag schon ein provisorisches Reetkissen bereit, nur ein paar Zentimeter von ihrem Kopf entfernt.
Er war sich nicht sicher, was er tun sollte. Vermutlich konnte er etwas zu essen zubereiten und sie dann wecken. Aber sie hatten eine lange, anstrengende Wanderung über Berg und Tal hinter sich, und morgen stand ihnen das Gleiche noch einmal bevor. Besser, er ließ sie jetzt schlafen.
Er lud die Pilze auf dem Boden ab und ließ sich neben Virginia nieder. Irgendetwas an der vielen frischen Luft und dem langen Marsch durch den Wald hatte auch seinen Appetit gedämpft. Sie würden wohl nicht an Unterernährung zugrunde gehen, wenn sie einmal eine Mahlzeit ausließen. Er konnte die Pilze auch noch bei Sonnenaufgang zubereiten.
Er starrte auf ihr Gesicht. Im Schlaf wirkte sie so entspannt. Ihre Lippen hatten sich zu einem leichten Lächeln gekräuselt, und ihr Ausdruck war ruhiger, als er es jemals zuvor bei ihr gesehen hatte. Normalerweise lag ein wachsamer Ausdruck auf ihrem Gesicht, vor allem, wenn sie ihn ansah. Doch jetzt war es, als wären alle Masken und Rollen hinweggefegt und nur noch die wahre Virginia zu sehen. Das Mädchen, das er mit jeder Faser seines Herzens besser kennenlernen wollte.
Er streckte eine Hand aus und strich ihr eine Haarsträhne aus den Augen. Sie rührte sich leicht und gab einen Laut von sich, aber sie erwachte nicht.
Fasziniert von ihrer unglaublichen Schönheit, beobachtete er sie eine Weile. Sie am Tage so anzuschauen, wenn sie normal zusammen waren, war schwierig, würde sie ihn dann schließlich bestimmt dabei ertappen und zurückstarren. Oder ihn fragen, warum er sie so ansah. Aber jetzt konnte er sie so lange bewundern, wie er mochte.
Schließlich streckte er sich neben ihr aus, den Kopf auf das Reetkissen gebettet, das sie ihm bereitet hatte. Er spürte, wie er in den Schlaf hinüberglitt. Und trotz der Gefahr, trotz der Situation, in der sie sich befanden, fühlte er sich glücklich. Es war, als hätte er endlich den Platz gefunden, an den er gehörte.
Er schlief so allmählich ein, dass er nicht einmal merkte, wann es passierte. Dann wachte er urplötzlich auf. Sonnenlicht drang durch den Türeingang.
Während der Nacht musste er sich im Schlaf umgedreht haben, denn er lag mit dem Gesicht von Virginia abgewandt.
Er drehte sich um, und sein Herz erstarrte.
Virginia war spurlos verschwunden. Dafür standen drei weiße Skelettfiguren mitten im Raum. Mit weiten, lidlosen Augen, die tief in dunklen Höhlen lagen, starrten sie ihn an. In ihren Händen hielten sie gekrümmte Klingen, die wie Sicheln aussahen, mit denen Bauern bei der Ernte das Korn mähten.
Verzweifelt krabbelte er in Richtung Eingang, doch dürre Arme umschlangen ihn von hinten. Wie dünne Zweige wirkten die Finger auf den Ärmeln seiner Jacke. Aber sie waren hart wie Knochen – und taten höllisch weh, als sie sich in sein Fleisch bohrten.
14
Sherlock strampelte und wand sich aus Leibeskräften, um sich zu befreien. Aber die Finger seines Angreifers bewegten sich nicht einen Millimeter von der Stelle. Einer von ihnen hielt ihm ein Messer an die Kehle. Es hatte eine trübe, rostige Klinge, als hätte es jahrelang unter der Erde gelegen. Die Botschaft war eindeutig, und er hörte auf, sich zu wehren.
Die Gestalten drehten Sherlock kurzerhand zu sich herum. Schaudernd nahm er wahr, dass ihre Kleider in Fetzen an ihnen herunterhingen und so vermodert waren, als hätten auch sie eine Ewigkeit unter der Erde gelegen. Begraben.
Sie beugten sich nieder, packten seine Füße und hievten ihn kurzerhand in die Luft. Trotz ihrer Erscheinung verfügten sie über enorme Kräfte. Wie ein Sack Getreide wurde er aus der Hütte getragen. Keiner von ihnen sprach ein Wort, aber auf einmal konnte Sherlock hören, dass sie atmeten. Einer von ihnen pfiff und keuchte wie ein Asthmatiker, während sich die anderen einfach anhörten wie normale Männer, die etwas Schweres schleppten. Tote Männer brauchten nicht zu atmen, sagte Sherlock sich. Zudem
rochen
sie auch nicht so, als wären sie tot. Sherlock kannte den ekelhaften, schrecklichen Gestank verrottenden Fleisches. Bei früheren Streifzügen durch die Wälder war er auf genug tote Tiere gestoßen. Wenn man diese … Wesen … so betrachtete, sollte
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