Zähl nicht die Stunden
im reifen Alter von achtunddreißig Jahren in eine Spitzenstellung seines Berufsstandes katapultieren.
Und er hatte es schon geschafft gehabt. Seine harte Arbeit hatte sich ausgezahlt. Die Geschworenen hatten ihm aus der Hand gefressen.
Syndrom des misshandelten Kindes – was zum Teufel bedeutete das schon, bevor er es zur Grundlage seiner Verteidigung erhoben hatte? »Die
Parallelen mit dem Syndrom der misshandelten Ehefrau sind
unübersehbar und unbestreitbar«, hatte er fortfahren wollen. »Nur ist das misshandelte Kind noch weit hoffnungsloser allem ausgeliefert als die misshandelte Ehefrau, weil es noch weniger Möglichkeiten hat, die
Situation zu verändern, noch weniger Möglichkeiten, sich seine Umwelt auszusuchen , seine Sachen zu packen und zu verschwinden.« Die Worte hatten ihm schon auf der Zunge gelegen – er hatte gerade Atem geholt und sich angeschickt , sie über seine Lippen rollen zu lassen, als jemand ihm einen solchen Magenschwinger verpasst hatte, dass ihm die Luft weg geblieben war.
Was war da passiert?
Aus dem Augenwinkel hatte er verschwommen eine Bewegung
wahrgenommen, so als wollte jemand seine Aufmerksamkeit gewinnen,
und als er hingeschaut hatte, war sein Blick auf Mattie gefallen, seine Frau, die er ausdrücklich gebeten hatte, nicht ins Gericht zu kommen: Da saß sie und lachte wie eine Wahnsinnige. Kichern konnte man das
nicht mehr nennen, nein, das war ein grässliches , röhrendes Gelächter direkt aus dem Bauch gewesen. Er hatte keine Ahnung , worüber sie gelacht hatte , vielleicht über seine Worte, über die Kühnheit seiner Argumentation; vielleicht aber hatte sie auch nur ihrer Verachtung
Ausdruck geben wollen – für das Verfahren, für den Ablauf der Dinge, für ihn. Dann hatte die Richterin mit ihrem Hammer losgedonnert und
den Saal zur Ordnung gerufen, und Mattie hatte sich ungeschickt an den Leuten in ihrer Sitzreihe vorbeigezwängt und, ihren Mantel im
Schlepptau, aus dem Saal bugsieren lassen, ohne auch nur einen Moment mit diesem irren, hysterischen Gelächter aufzuhören, das ihm jetzt noch in den Ohren dröhnte.
Fünf Minuten noch. Mehr Zeit hätte er nicht gebraucht. Fünf
Minuten noch, und er wäre mit seinem Schlussplädoyer zu Ende
gewesen. Die Anklage hätte zur Erwiderung antreten müssen. Da hätte Mattie nach Herzenslust Faxen machen können: auf und ab springen wie ein verrückt gewordenes Steh-auf-Männchen, sich nach Lust und Laune
die Kleider vom Leib reißen , Tränen lachen.
Was war nur los mit ihr?
Vielleicht geht es ihr nicht gut , dachte Jake , der nicht herzlos sein wollte. Sie hatte heute Morgen verschlafen , was an sich schon ungewöhnlich war , und dann dieser seltsame Anruf bei ihm im Büro , dieses Klein-Mädchen-Stimmchen , so zart und verletzlich, als sie vorgeschlagen hatte, zur Verhandlung zu kommen. An Mattie Hart war
nichts Verletzliches. Sie war stark und kraftvoll wie ein Orkan. Und konnte ebenso zerstörerisch sein. Hatte sie es vielleicht ganz bewusst darauf angelegt, ihn zu Fall zu bringen? War sie deshalb heute Morgen hierher gekommen, obwohl er sie ausdrücklich gebeten hatte, es nicht zu tun?
»Zur Ordnung«, rief die Richterin mit lauter Stimme, aber der Ruf
verhallte ungehört.
»Was ist eigentlich los?«, fragte der Angeklagte, in den Augen den
verängstigten Blick eines gefangenen Kindes.
Ich kenne diesen Blick, dachte Jake, der seine eigene Kindheit in diesen Augen gespiegelt sah. Ich kenne diese Furcht.
Er schob die unerwünschte Erinnerung weg und versuchte, das
Gleiche mit dem Bild seiner Frau zu tun. Aber Mattie stand
unverrückbar da , so zart anzusehen und doch so hartnäckig wie immer , von ihrer ersten Begegnung an.
Bloß nicht wieder dieser Quatsch, dachte Jake. Er zwang sich, einen
Fuß vor den anderen zu setzen und den schützenden Kokon zu
durchbrechen, der jetzt mehr einem Sarg glich. Er setzte sich neben seinem Mandanten nieder und umfasste die eiskalte Hand des Jungen.
»Ihre Hände sind so kalt«, sagte Douglas Bryant.
»Oh, tut mir Leid.« Jake hätte beinahe gelacht, aber in diesem Gericht war für heute genug gelacht worden.
»Wir machen eine halbe Stunde Pause«, verkündete die Richterin, und
der Gerichtssaal begann augenblicklich sich zu leeren, als die Leute wie magnetisch angezogen zu den Ausgängen strebten.
Jake spürte, wie Douglas Bryants Hand der seinen entglitt, als der Junge abgeführt wurde. Er sah den Geschworenen nach, die im
Gänsemarsch aus dem Saal
Weitere Kostenlose Bücher