Zähl nicht die Stunden
marschierten. Wie kann ich sie
zurückgewinnen?, fragte er sich. Was muss ich sagen, um dieses
vernichtende Theater , das meine Frau in diesem Gerichtssaal aufgeführt hat, vergessen zu machen?
Wusste jemand, dass sie seine Frau war?
»Jake...«
Die Stimme war vertraut, weich und gedämpft. Er hob den Kopf. O
Gott, dachte er, warum muss ausgerechnet sie hier sein?
»Alles in Ordnung?«
Er nickte, ohne etwas zu sagen.
Shannon Graham hob die Hand, als wollte sie ihn berühren , aber nur Zentimeter von seiner Schulter entfernt hielt sie inne. Einen Moment flatterte ihre Hand ziellos in der Luft. »Kann ich irgendetwas tun?« , fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. Er wusste, dass sie in Wirklichkeit fragte, was zum Teufel da los war, aber da er die Antwort so wenig wusste wie sie, sagte er nichts. »Geht es Ihrer Frau nicht gut?«
Er zuckte mit den Schultern.
»Sie hat vorhin etwas Merkwürdiges zu mir gesagt«, fuhr Shannon
fort, als Jake stumm blieb. »Sie erklärte mir aus heiterem Himmel , sie wolle ihr Testament ändern.«
»Was?« Jake drehte so ruckartig den Kopf , als hätte ihn jemand an den Haaren gepackt.
Jetzt war es Shannon , die mit den Achseln zuckte. »Also , jedenfalls ...
wenn ich irgendetwas tun kann...« , sagte sie wieder.
»Sie können das für sich behalten« , sagte Jake , aber er wusste , dass sich Shannon Graham , noch während sie sich zum Gehen wandte, bereits vorstellte, wie sie den Kollegen in der Kanzlei von der Szene erzählen würde. Ihr Gang hatte etwas Eiliges, ja, Eiliges, als könnte sie es kaum erwarten, den Ort zu erreichen, den sie anstrebte.
Es spielte keine Rolle. Die Geschichte von Matties Ausbruch würde
ohnehin in aller Munde sein, noch ehe Shannon Graham das Haus
verlassen hatte. Juristen bildeten in dieser Hinsicht keine Ausnahme: Sie klatschten wie alle anderen Berufsgruppen mit Leidenschaft.
Aufgebauschte Berichte über das Verhalten seiner Frau flogen zweifellos bereits durch die geheiligten Hallen der Gerechtigkeit zur Tür hinaus, um von der heruntergekommenen Straßenecke aus, an der das
Gerichtsgebäude stand, ihren Weg über die Stadt zur eleganten Michigan Avenue zu nehmen, wo die Kanzlei Richardson, Buckey und Lang ihre
Büros hatte. »Habt ihr gehört, was Mattie Hart heute im Gerichtssaal abgezogen hat?« »Was ist eigentlich mit dieser Frau los?« »Ihr hättet das erleben sollen! Sie hat mitten in seinem Schlussplädoyer angefangen zu lachen wie eine Irre.«
Manchmal wünschte er, sie würde einfach verschwinden.
Er wünschte Mattie nichts Böses. Er wünschte nicht, sie wäre tot oder etwas dieser Art. Er wünschte nur, sie würde aus seinem Leben und aus seinen Gedanken verschwinden. Seit Wochen überlegte er, wie er ihr
beibringen sollte, dass es aus war, dass er eine andere Frau liebte und sie verlassen werde. Er hatte seine Rede geprobt wie ein Schlussplädoyer, und genau das war es ja eigentlich auch, dachte er jetzt, ein
Schlussplädoyer.
»Keiner hat Schuld«, begann die Rede stets und geriet dann ins
Stocken. Weil in Wahrheit eben doch jemand Schuld hatte. Er hatte
Schuld. Obwohl auch sie ihr gerüttelt Maß an Schuld trug, wie jetzt eine Stimme einwarf. Sie war schließlich schwanger geworden, obwohl sie es hätte verhindern können; sie hatte darauf bestanden, das Kind zur Welt zu bringen; sie hatte sich auf seinen halbherzigen Vorschlag zu heiraten gestürzt, obwohl sie genau gewusst hatte, dass er eigentlich gar nicht heiraten wollte, dass sie nicht zueinander passten, dass es ein Fehler wäre zu heiraten und er ihr immer grollen würde.
»Wir haben unser Bestes getan«, ging die Rede weiter. Aber er hatte
nicht sein Bestes getan, das wusste er so gut wie sie. Doch Mattie, insistierte die Stimme, lauter jetzt, war auch nicht ohne Tadel. Anfangs war sie völlig in ihrer Mutterrolle aufgegangen, hatte sich Tag und Nacht einzig um Kim gekümmert und ihn ausgeschlossen. Es stimmt zwar,
dass er sich Interessanteres vorstellen konnte, als Babys zu wickeln, und dass so kleine Kinder ihn nervös machten, aber das hieß schließlich noch lange nicht, dass er seine Tochter nicht liebte und es sich gern gefallen ließ, in die Rolle des beiläufigen Beobachters in ihrem Leben gedrängt zu werden. Er neidete Mattie die ungezwungene Beziehung , die sie mit Kim verband, er neidete ihnen beiden diese Innigkeit. Kim war ohne Zweifel die Tochter ihrer Mutter. Daddys kleines Mädchen konnte sie nicht mehr werden, dazu war es lange zu
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