Zähl nicht die Stunden
sei wirklich nicht ihr Wunschtraum gewesen.
»Glaubst du, sie weiß von uns?«, fragte sie jetzt.
Jake zuckte mit den Schultern wie zuvor. Alles ist möglich, dachte er, eine Vorstellung , die einmal grenzenlose Freiheit suggeriert hatte , nun aber nur noch Klaustrophobie hervorrief.
»Was tust du jetzt?«, fragte Honey.
»Nach Hause fahren kann ich jedenfalls nicht«, antwortete er heftig , mit Zorn in den Augen. »Ich kann sie jetzt nicht sehen.«
»Sie wirkte zu Tode geängstigt.«
»Was?« Was redete Honey da?
»Ich habe ihr Gesicht gesehen, als sie ging«, erklärte Honey.»Sie sah aus, als hätte sie Todesangst.«
»Mit gutem Grund.«
»Nein, nein, das ging über allen guten Grund hinaus.«
»Das kann man wohl sagen.« Jake schlug sich mit den Händen
knallend auf die Oberschenkel und genoss den kurzen brennenden
Schmerz. »Aber immer schön eines nach dem anderen.« Er klopfte auf
die burgunderrote Seidenkrawatte , die Honey ihm am Abend zuvor als Talisman geschenkt hatte.
»Du hattest sie in der Tasche« , sagte Honey und deutete mit dem Kopf zur leeren Geschworenenbank hinüber. »Und du wirst sie wieder
einfangen.«
Jake nickte , in Gedanken bereits bei der Wiederaufnahme der Verhandlung. Was würde er sagen? Mattie hatte diese wichtigste
Verhandlung seiner Karriere mit ihrem hysterischen Gelächter aus dem Fluss gebracht. Sie hatte ihn – Jake – der Lächerlichkeit preisgegeben und seinen Mandanten vielleicht einem fehlerhaft geführten Prozess
ausgeliefert. Die Geschworenen, ja, alle in diesem Saal, warteten jetzt zweifellos gespannt darauf , wie er mit diesem Zwischenfall umgehen würde. Er konnte ihn nicht einfach übergehen. Er musste ihn in seine Argumentation einbeziehen. Ihn sich irgendwie zu Nutze machen.
Aber wenn ihm das gelingen sollte , musste er zuerst einmal seine Wut über Matties empörendes Verhalten sauber verschnüren und wegpacken.
Das würde schwierig werden, aber es war nicht unmöglich. Jake hatte schon als kleines Kind gelernt , dass sein Überleben von seiner Fähigkeit abhing, bestimmte Gefühle einzufrieren , und jetzt hing auch das Überleben eines anderen von dieser Fähigkeit ab. Douglas Bryants
Schicksal , ja , sein Leben, lag in Jakes Händen, und Jake würde ihn retten, weil er ihn verstand, weil er aus eigener Erfahrung die Wut und die Frustration kannte, die den Jungen getrieben hatten zu töten. Das hätte ich sein können, dachte er und ließ abrupt Honeys Hand los, als die Türen des Gerichtssaals geöffnet wurden und die Leute hereinströmten und zu ihren Plätzen eilten.
»Ich liebe dich, Jason Hart«, sagte Honey.
Jake lächelte. Honey war der einzige Mensch auf der Welt, der ihn Jason nennen durfte, bei dem Namen, den seine Mutter ihm gegeben,
den sie immer wieder geschrieen hatte, wenn sie ihn geschlagen hatte –
»böser Jason , böser Jason!« – , bis die Wörter miteinander verschmolzen und für ihn eins geworden waren. Böserjason, böserjason. Nur wenn Honey seinen Namen aussprach, verlor er den Charakter der Beschimpfung und ewigen Verwünschung. Nur bei Honey konnte Jason Hart den bösen
Jungen hinter sich lassen und zu dem Mann werden, der er immer hatte sein wollen.
»Du brauchst ein paar Minuten für dich.«
Honey war schon aufgestanden. Mattie hätte ein Fragezeichen hinter
den Satz gesetzt und ihn gezwungen, zu entscheiden und sich danach
schuldig zu fühlen, weil er sie ausgeschlossen und fortgeschickt hatte.
Honey wusste immer, wann er Nähe brauchte und wann Alleinsein.
»Aber bleib in der Nähe«, sagte er leise.
»Siebte Reihe, Mitte.« Jake sah ihr lächelnd nach, als sie mit
herausfordernd wiegenden Hüften – sie wusste genau, dass er sie
beobachtete! – nach hinten ging. Sekunden später kehrten die
Geschworenen in den Saal zurück und Douglas Bryant nahm seinen
Platz am Verteidigertisch wieder ein.
»Der Sitz ist noch warm«, stellte er fest.
Jake lächelte ermutigend und tätschelte dem Jungen kurz die Hand,
als der Gerichtsdiener um Ruhe bat. Es wurde augenblicklich still im Saal, die Richterin nahm wieder an ihrem Pult Platz und ließ ihren Blick aufmerksam, auf der Suche nach möglichen Unruheherden , durch den Saal schweifen.
»Bei jeder weiteren Störung« , verkündete sie warnend , »lasse ich den Saal sofort räumen.«
Jake hielt die Warnung für überflüssig. Nie hatte er eine so tiefe Stille in einem Gerichtssaal erlebt. Sie warten alle , dachte er. Sie warten darauf , was ich
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