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Zähl nicht die Stunden

Titel: Zähl nicht die Stunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joy Fielding
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linken Nasenloch verschwand. Mattie lachte , und der Welpe machte es sich auf ihrem Schoß bequem und wärmte ihre
    kalten Hände mit seinem warmen Fell , sodass sie das Gefühl hatte , Fleece-gefütterte Fäustlinge zu tragen. Wie lautete noch die alte
    Redensart? Das Glück ist ein warmer junger Hund? Das stimmte
    tatsächlich , staunte Mattie und beobachtete , wie der kleine Hund die Augen schloss und sofort einschlief. Sie musste nur einen bequemen
    Fleck anbieten, auf dem er sich zusammenrollen konnte, und er liebte sie. Bedingungslos.
    Und sie liebte ihn, erkannte sie zu ihrem größten Erstaunen. Nach all den Jahren , in denen sie sich geweigert hatte , auch nur darüber nachzudenken, einen Hund ins Haus zu lassen , war sie völlig verschossen, Hals über Kopf verliebt. Mein süßes Baby, dachte sie und sehnte sich schmerzhaft danach, ihn streicheln zu können.
    »Oh, weg mit dir«, sagte Aurora und scheuchte George davon, bevor
    Mattie protestieren konnte. Aurora führte ein Glas Wasser an ihre
    Lippen , Mattie nippte daran und spürte, wie die Flüssigkeit mühsam durch ihre Kehle sickerte. »Noch ein bisschen mehr«, wies Aurora sie an.
    Mattie schüttelte den Kopf, obwohl sie noch durstig war. Doch je
    mehr sie trank, desto öfter musste sie pinkeln , und Mattie hatte diesen Ruf der Natur fürchten gelernt. Von den vielen Dingen, die Mattie an ihrer Krankheit hasste , hasste sie es am meisten , dass sie mit jeder Verschlechterung ihres Zustands nach und nach all dessen beraubt
    wurde, was sie einst für selbstverständlich gehalten hatte – ihrer
    Mobilität, ihrer Freiheit, ihrer Privatsphäre und zuletzt und am
    grausamsten ihrer Würde. Sie konnte nicht einmal mehr alleine auf die Toilette gehen. Sie brauchte jemanden , der sie dorthin brachte, sie auf die Schüssel setzte und sie hinterher abwischte. Aurora war ein
    Geschenk des Himmels und erledigte all diese Pflichten klaglos. Genau wie Kim und Jake, wenn Aurora Feierabend hatte. Doch Mattie wollte
    nicht, dass ihre Tochter ihre Krankenschwester spielen oder ihr Mann ihr den Hintern abwischen musste. »Du musst essen und trinken«, sagten ihr immer alle. »Damit du kräftig bleibst.« Doch Mattie war des
    Kräftigseins überdrüssig. Welchen Sinn hatte all die Kraft, wenn man trotzdem gefüttert und getragen werden und sich den Hintern abwischen lassen musste? Sie war dieser Zwangs-Infantilisierung müde. Dieser
    Zustand konnte sich noch jahrelang hinziehen , und so wollte sie nicht in Erinnerung bleiben. Sie hatte genug. Sie wollte zumindest mit einem Anschein von Würde sterben.
    Es war an der Zeit.
    »Brrr«, machte Kim, stieg aus dem Pool und wickelte sich in mehrere
    Schichten dunkelroter Badelaken. »Wenn man rauskommt , ist es ganz schön kalt.« George war sofort bei ihren Füßen und leckte das Wasser zwischen Kims Zehen ab. »Und was denkst du?« , fragte Kim , als sie , dicht gefolgt von George, die Treppe hoch rannte. »Fünfzig Bahnen.
    Ziemlich gut, was?«
    »Übertreib’s nicht«, sagte Mattie langsam und leise.
    »Mache ich schon nicht. Wenn es wieder zwanghaft wird, höre ich
    sofort auf. Versprochen.«
    Mattie lächelte. Die Tage von quälenden Zwei-Stunden-Trainings und
    strenger Diät waren zum Glück vorbei. Kim ging auf eine neue Schule, wo sie einen viel versprechenden Start hingelegt hatte. Sie ging weiterhin einmal die Woche zu Rosemary Colicos, genau wie Jake. Manchmal
    gingen die beiden auch gemeinsam. Kim und ihr Vater kamen sich von
    Tag zu Tag näher.
    Es war an der Zeit.
    »Wann fängt das Spiel an?«, fragte Mattie , und Kim beugte sich zu ihr herab , um sie zu verstehen.
    »Um sieben, hat Dad, glaube ich, gesagt.« Sie blickte auf ihre Uhr.
    »Ich sollte mich wohl langsam fertig machen. Es ist schon fast fünf. Ich will mir vorher noch die Haare waschen.«
    Mattie nickte. »Geh nur. Mach dich fertig.«
    Kim küsste die knochige Wange ihrer Mutter. Mattie spürte die
    weiche kalte Wange ihrer Tochter an ihrer.
    »Du weißt doch, wie sehr ich dich liebe?«, fragte Mattie.
    »Ich liebe dich auch«, sagte Kim, hob George hoch und rannte nach
    drinnen, bevor Mattie noch etwas sagen konnte.
    »Wir gehen auch rein«, sagte Aurora , drehte Matties Rollstuhl herum und schob sie in die Küche.
    Und was , wenn ich nicht rein will? , fragte Mattie sich und begriff , dass jeder Protest sinnlos war. Ihre Macht , Entscheidungen zu treffen, war von anderen übernommen worden , die letzte Stufe einer allmählichen Beschneidung ihrer

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