Zärtlicher Sturm
nicht vor mir zu verstecken brauchst.«
Stephanies zartes, blasses Gesicht wurde dunkler. »Hab' ich gar nicht«, sagte sie zu ihrer Verteidigung. »Aber es geht dich trotzdem nichts an.«
Sharisse war entgeistert. Sie wußte nicht mehr, was sie von ihrer kleinen Schwester halten sollte. Seit Stephanie Anfang des Jahres siebzehn geworden war, hatte sie sich total verändert. Es machte ganz den Eindruck, als hätte sie plötzlich gegen alles etwas, vor allem gegen Sharisse, und das völlig grundlos. Ihre Ablehnung machte sich in wütenden, unberechenbaren Ausbrüchen Luft, denen Tränen folgten, ohne daß sie jemals eine Erklärung abgab. Sie hatte den Versuch aufgegeben, dahinterzukommen, was ihre Schwester quälte.
Das Verblüffende daran war, daß Stephanie sich im Lauf dieses letzten Jahres zu einer umwerfenden Schönheit entwickelt hatte und von Jünglingen und Verehrern umlagert war. Mit ihren vollen Brüsten, der schmalen Taille und ihrem zarten Körperbau – dazu kam noch ihr schönes blondes Haar – entsprach sie exakt dem Schönheitsideal der Zeit. Sie wurde von allen Frauen beneidet, denen es auch nur an einem dieser Attribute fehlte – einschließlich Sharisse, die keins dieser Attribute aufzuweisen hatte. Sie konnte es nicht ändern, aber sie wünschte sich wirklich sehnlichst, so auszusehen wie ihre Schwester. Sharisse versteckte ihre Enttäuschung geschickt unter einer Maske der Selbstsicherheit, die selbst die scharfsichtigsten Mitmenschen täuschen konnte. Manche hielten sie sogar für hochmütig.
Stephanies bestürzendes Verhalten hätte ausgereicht, um einen Heiligen aus der Fassung zu bringen. Der einzige Mensch, den sie nicht anfauchte, war ihr Vater. Doch beide Mädchen wußten, daß Wutausbrüche in seiner Gegenwart nicht ratsam waren. Ihre Mutter, die zwei Jahre nach Stephanies Geburt gestorben war, war der einzige Mensch, der es gewagt hatte, sich mit Marcus Hammond zu streiten. Sie hatte einen starken Willen gehabt, und häufig war es zu hitzigen Diskussionen gekommen. Wenn sie sich nicht miteinander stritten, hatten sie einander ebenso glühend geliebt. Keines der beiden Mädchen schien seinen Eltern ähnlich zu sein. Ihr Vater hielt sie beide für liebenswürdig und zuvorkommend. Sie waren ausgezeichnete Schauspielerinnen.
»Was willst du?« fragte Stephanie verdrießlich.
»Ich suche Charley.«
»Ich habe ihn heute noch nicht gesehen.«
Sharisse wandte sich ab, doch ihre Neugier war wachgeworden. »Was hast du eigentlich getan, als ich reingekommen bin, Steph? Wir hatten doch nie Geheimnisse voreinander.«
Stephanie sah sie zögernd an, und einen Moment lang glaubte Sharisse, sie hätte sich erweichen lassen. Doch dann sah sie auf ihre Hände und sagte mit kindlicher Stimme: »Vielleicht habe ich gerade einen Liebesbrief geschrieben. Vielleicht habe ich einen ganz besonderen Verehrer.« Dann blickte sie wieder auf und sagte trotzig: »Und vielleicht heirate ich auch schon bald.«
Sharisse tat all das als Unsinn und Übellaunigkeit ab. »Ich wünschte, du würdest mir sagen, was dich plagt, Steph. Ich würde dir wirklich gern helfen.«
Stephanie ging nicht darauf ein. »Ich sehe, daß du dich zum Ausgehen angekleidet hast.«
Sharisse seufzte resigniert. »Joel hat einen Ritt im Central Park vorgeschlagen, wenn der Tag schön wird.«
»Ach so.« Für einen winzigen Moment trat ein gequälter Blick in Stephanies Augen. Dann sagte sie leichthin: »Dann laß dich von mir nicht aufhalten.«
»Hast du vielleicht Lust mitzukommen?« fragte Sharisse, die einem plötzlichen Impuls gehorchte.
»Nein! Ich meine, ich denke nicht im Traum daran, euch zu stören. Außerdem muß ich noch einen Brief beenden.«
Sharisse zuckte die Achseln. »Mach doch, was du willst. Ich will jedenfalls Charley finden, ehe ich aus dem Haus gehe. Wir sehen uns heute abend.«
In dem Moment, in dem die Tür geschlossen wurde, machte Stephanie ein langes Gesicht, und in ihre Augen traten Tränen. Es war nicht gerecht, es war einfach nicht gerecht! Sharisse bekam immer alles. Ihre Schwester war auf Rosen gebettet. Sie war diejenige, die das fantastische kupferrote Haar ihrer Mutter geerbt hatte und auch deren ungewöhnliche Augen, die ein kräftiges, dunkles Violett annehmen konnten und ansonsten die zarte, sinnliche Tönung eines Amethysts hatten. Sie war diejenige, die ausgeglichen und selbstbewußt war, und sie war immer der Liebling ihres Vaters gewesen. Ihre Gouvernanten, ihre Hauslehrer und selbst die
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