Zahn, Timothy - Jagd auf Ikarus
hinwegzuschwingen, statt frontal dagegenzustoßen.
Der Haken an dieser Idee war nur, dass, falls der Ausleger der plötzlichen Belastung nicht standhielt, das graue Ende wahrscheinlich abbrechen würde. Andererseits – wenn er wirklich so schwach war und ich ihn nicht ergriff, würde er wahrscheinlich auch dann zerbrechen, wenn ich mit ihm zusammenstieß.
Und als ich meine Überlegungen mit dem deprimierenden Schluss beendete, dass ich so oder so schlechte Karten hätte, war ich auch schon da. Ich biss die Zähne zusammen, streckte den rechten Arm aus und ergriff vorsichtig den Ausleger. Ich fühlte mich, als ob ich eine schlafende Giftschlange zu packen versuchte.
Aber ich war noch zu vorsichtig. Das Material war viel glatter, als es aussah, und ehe ich mich versah, glitt ich mit der Hand am gestreiften Abschnitt zum grauen Ende. Ich packte fester zu und versuchte mich zugleich über den Ausleger zu schwingen, wie ich es vorgehabt hatte. Weil ich den Ausleger aber nicht richtig zu fassen vermochte, fand ich auch keinen Ansatzpunkt und rutschte stattdessen wie die Niedergravitations-Karikatur eines Feuerwehrmanns an der Stange am Ausleger entlang.
So hatte ich mir das zwar nicht vorgestellt, aber zumindest war der Ausleger viel massiver, als ich vermutet hatte. Obwohl durch den einhändigen Griff mein ganzes Gewicht auf ihm lastete, erkannte ich keinerlei Anzeichen dafür, dass er durchzubrechen drohte oder sich auch nur durchbog. Vielleicht war er sogar so robust, dass ich ihn als Kletterhilfe für den Rückweg zum Geflecht zu nutzen vermochte.
Natürlich unter der Voraussetzung, dass es mir irgendwie gelang, das verdammte Ding fest zu packen. Ich schwang mich halb herum, ergriff den Ausleger mit der anderen Hand und packte beherzt zu.
Der beidhändige Griff bewirkte zwar eine leichte Verbesserung, aber es reichte noch nicht. Ich rutschte noch immer gemächlich am Ausleger entlang und hatte auch schon fast den grauen Abschnitt am Ende erreicht. Ich wusste, wenn ich nicht zum Stillstand kam, würde ich durch das Trägheitsmoment über das Ende des Auslegers hinausschießen und das Zentrum der Sphäre kreuzen. Das wäre zwar keine Katastrophe, weil es dort schließlich nichts gab, womit ich hätte kollidieren können; aber es würde mich nur noch mehr wertvolle Zeit kosten, während ich darauf wartete, dass das Schwerefeld mich abbremste und zum Mittelpunkt zurückbrachte.
Und dann erreichte ich den grauen Abschnitt des Auslegers. Ich biss die Zähne zusammen und drückte fest zu -im Bewusstsein, dass das meine letzte Chance war, mit einer gewissen Würde zum Stillstand zu kommen.
Es war, als ob ich eine stromführende Hundert-VoltLeitung angepackt hätte. Plötzlich prickelte mein ganzer Körper, die Härchen im Nacken und auf den Armen stellten sich auf, und die zusammengepressten Zähne versuchten zu klappern. Und das Tüpfelchen auf dem i war der Ärger, dass ich nach der ganzen übertriebenen Vorsicht und grenzwertigen Paranoia doch noch auf eine stromführende Leitung getroffen war. Und noch schlimmer: Ich hatte sie mit voller Absicht berührt.
Und dabei registrierte der Rest meines Bewusstseins, der nicht sofort in den Panikmodus gewechselt war, dass, wenn das ein Stromschlag war, er sich ganz anders anfühlte als alles, was ich bisher in dieser Hinsicht erlebt hatte. Zum einen verspürte ich keinen Schmerz, auch nicht die leisen Vorboten von Schmerz. Außerdem verteilte das Kribbeln sich gleichmäßig im ganzen Körper und lief nicht nur durch Arme und Brust, wie ein konventioneller Strom hätte fließen müssen. Dann ertönte ein entferntes Geräusch wie ein peitschender Donnerschlag eines Blitzes, der in unmittelbarer Nähe eingeschlagen war, und alles wurde schwarz.
Es blieb aber nicht lange schwarz. Bevor die Dunkelheit weiter andauern konnte, gingen die Lichter wieder an. Nicht der grelle, scharf konturierte Strahl meiner Taschenlampe, sondern ein viel weicheres, gedämpftes Licht. Im ersten Moment fragte ich mich, ob ich vielleicht einen Blackout gehabt hatte; aber die Dunkelheit und das Licht waren nicht von den üblichen Anzeichen und Empfindungen begleitet worden, die einer verspürte, wenn er das Bewusstsein verlor und wiedererlangte.
Und dann registrierte ich plötzlich mit meiner reduzierten Wahrnehmung, dass der gestreifte Ausleger mit der Sprengfalle am Ende verschwunden war. Genauso wie das Gewirr aus Kabeln und die rechteckigen Monitore, die ich in der kleinen Sphäre gesehen
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