Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zander, Judith

Zander, Judith

Titel: Zander, Judith Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: die wir heute saagten Dinnge
Vom Netzwerk:
Hause
könnt ich mein Kind nicht auf den Arm nehmen. Ich durfte auch nicht. »Sie
dürfen nicht schwer heben«, haben sie gesagt, »auch später nie«. Ich konnte
keine Kinder mehr bekommen. Alles verklebt. Mein Kind erkannte mich nicht. Sie
hatte Angst vor mir. Ich hatte Angst, dass das so bleibt, dass ich gar kein
Kind mehr hab. Ich hab ihr A lle meine E ntchen vorgesungen, da hat sie meine
Stimme erkannt, oder ich weiß nicht, irgendwas an mir muss sie doch an ihre
Mama erinnert haben.
    Dann ging der Schnitt wieder
auf. Ich merkte, wie es plötzlich warm und nass wurde, ich weiß noch, Romy
stand vor mir und guckte mich an, und ich zog vorsichtig mein Hemd hoch. Ich
wollte nicht heulen. Sie wollten mich wieder dabehalten. Aber ich hab mich
geweigert, ich hab gesagt: »Nein.« Einfach nein. Ich glaub, ich bin eigentlich
gar kein Typ, der was aushält, ich hatte einfach Angst. Sie haben mir erlaubt,
jeden Tag zu kommen, um die Wunde versorgen zu lassen. Irgendwie heilte es
dann.
    Ich hab wieder gearbeitet,
ziemlich schnell, aus der Zeit muss das Foto sein. Zu Romys zweitem Geburtstag
haben wir die ersten Farbfotos gemacht. Meine spitzen Knochen gucken durch
meinen Pullover. Später kam mal eine der Schwestern in den Laden, sie freute
sich, mich gesund zu sehen. »Frau Plötz«, sagte sie, »jetzt kann ichs Ihnen ja
sagen, also, wir haben da alle nicht mehr an Sie geglaubt.« - Komisch, das ist
so lange her, aber das ist fast immer noch das gleiche Gefühl, wenn ich da
heute dran denk. Das war wien Schock, ich musst erst mal nach hinten und mich
ausheulen. Da hab ich das erste Mal wirklich wieder an Gott gedacht, dass es
den wohl doch geben muss.
    Ich wollt alles anders machen.
Ich wollt mich nie mehr mit Friedhelm streiten. Ich wollt mein Kind ganz anders
erziehen, sowieso. Ich wollt nie wieder jammern. Aber solche Sachen halten
drei Wochen, drei Monate, wenns hoch kommt, dann ist man wieder drin im alten
Trott. Der Mensch ist komisch. Man macht nie das, was man will. Sondern immer
nur das, was man kennt. In- und auswendig. Bloß sich selbst kennt man nicht.
Und den andern eigentlich auch nicht. Kennt mich einer?
    Außerdem mach ich morgen was
Verrücktes. Ich geh nicht zum Bibelgesprächskreis. Überhaupt nicht mehr. Ich
fahr zum Chor nach Schmalditz, das wollt ich schon lange. Die haben da jetzt
echt gute Leute, das kriegt richtig Qualität, ich hab die schon paar Mal
gehört, und Brigitte hat auch zu mir gesagt, »Mensch, komm doch zu uns, mit
deiner Stimme!«. Dabei kann ich nicht mal Noten lesen. »Kann doch keiner«, hat
sie gesagt. Ich wollt ja sofort, aber blöderweise fällt die Probe genau auf den
Bibel-Abend, tja. Tja.
     
    ROMY
     
    Das wars also, denk ich die
ganze Zeit, mein Kopf ist mit diesem Satz gefüllt wie mit Watte, verstopft mit
einer weichen, betäubenden Knirschigkeit, das wars. Jetzt hocken wir hier wie
in Wodka getunkte späte Fliegen, zu Schmetterlingen hats denn wohl doch nicht
gereicht. Ich denke an vorgestern, als wir fast ebenso wortlos aus Ueckermünde
zurückkamen, Paul sich nur immer wieder bedankte, dass wir mitgekommen seien,
dass Ella es ihm gesagt habe. Wir sind natürlich nicht mit rein, sondern mit
kaum zu gebrauchenden Gefühlen, kaum zu fassenden Gedanken durch die Stadt
geschlichen, erst am Haff wurde uns etwas besser. »War das jetzt richtig?«, hat
Ella gefragt, und ich konnte nur mit den Schultern zucken, weil ich gar nicht
mehr wusste, was das bedeuten soll: richtig. Richtig vorstellbar war mir das
ohnehin nicht, ein Halbbruder, dieser Halbbruder, und wie Paul ihm jetzt gegenübersaß, was
redet man mit einem, der einem fremder nicht sein könnte und gleichzeitig auf
so fatale Weise verbunden ist?
    Wir warteten ein paar Meter
vom Ausgang auf ihn, ich sah ihn schon von weitem, noch hinter der Glastür,
sein rotes Gesicht. Wir winkten ihm zu, nicht wie jemandem, der auf uns
zukommt, eher im Gegenteil. Ella zündete sich die nächste Zigarette an, Paul
fischte sie ihr aus den Fingern. Nach zwei, drei Zügen hielt er sie mir hin,
ich nahm sie ohne Zögern, inhalierte tief und gab sie benommen an Ella zurück.
    Den Wodka übrigens hab ich
heute nach der Schule mit ihr zusammen gekauft, sie war auch gleich dafür, als
ich es vorschlug, was mich komischerweise überraschte. Wahrscheinlich bin ich
es einfach nicht gewohnt, gute Vorschläge zu machen, das heißt, nicht mehr.
Früher war es mir selbstverständlich, die beste Idee zu haben, und meine
Freundinnen tanzten nach

Weitere Kostenlose Bücher