Zauberkusse
Mann Ende Dreißig im tadellos sitzenden Nadelstreifenanzug, der von seinen zwei süßen Töchtern lärmend begrüßt wird. Kein Zweifel, ich bin mitten in einem Bilderbuch gelandet. Einem aus den Fünfzigern. Unbehaglich setze ich meine Fahrt im Schneckentempo fort, vorbei an vorbildlichen Blumenbeeten, frisch gewaschenen Autos ohne einen einzigen Kratzer im Lack, strahlenden Mutter-Vater-Kind-Familien. Und ich frage mich, warum Gregor mit seiner Frau in diese unwirkliche Welt gezogen ist. Und was er eigentlich von mir will. Wer hier wohnt, der hat einen klaren Plan für sein Leben: Haus, Garten, Passat-Kombi, Benno Wachhund, Tibby Schmusekatze und die reizenden Zwillinge Jonathan und Sophia. Für einen Augenblick kriecht mir das schlechte Gewissen kalt die Wirbelsäule hoch. Aber dann schiebe ich es schnell von mir. Die Ehe von Gregor ist doch sowieso schon seit langem kaputt, das hat er mir selbst gesagt. Es hat nicht einmal etwas mit mir zu tun. Mein Blick fällt auf die große, kupferne Nummer 54, ich ziehe instinktiv den Kopf ein und beschleunige meine Fahrt, aber es sieht niemand zum Fenster hinaus. Wenige Meter weiter steige ich vom Rad und stelle es hinter einer vorbildlich gestutzten, saftig grünen Hecke ab, die mich ziemlich gut vor Blicken schützt, durch die ich den Hauseingang aber noch beobachten kann. Und dann warte ich. Es wird halb zehn, dann zehn. Mittlerweile ist die Sonne untergegangen und über Bilderbuchland legt sich die Stille der Nacht. Die spielenden Kinder wurden von ihren Müttern ins Haus gerufen, Fahrräder in Garagen geparkt, Gute-Nacht-Geschichten vorgelesen und Lichter gelöscht. Um viertel nach zehn ist es stockdunkel um mich herum, und fast gespenstisch ruhig. Seit über einer Stunde sitze ich jetzt hier auf den roten Pflastersteinen, den Rücken gegen einen Hydranten gelehnt und spüre meinen Hintern nicht mehr. Empfindlich kalt ist es mittlerweile auch geworden und ich friere in meiner dünnen, blauen Sweatshirtjacke, unter der ich nur ein enges, weißes Spaghettishirt trage. Meine Knie geben ein ungesund knirschendes Geräusch von sich, als ich mich mühsam aufrappele, um mir die steifen Beine ein wenig zu vertreten. Behutsam gehe ich ein paar Schritte auf und ab. Ich sollte besser nach Hause fahren, denke ich mit einem unschlüssigen Blick auf mein Fahrrad. Was bringt es denn, hier stundenlang vor Gregors Haus zu hocken und zu warten? Ich komme mir vor wie ein verliebter Teenager. Während mein Kopf beschließt, meine unwürdige Situation auf der Stelle zu beenden, sind meine Beine ganz anderer Meinung. Ohne mich um Erlaubnis zu fragen, bewegen sie sich auf das Haus mit der Nummer 54 zu. Durch das Milchglas der weißen Eingangstür dringt ein schwacher Lichtschein nach draußen, die Küche, die nach vorne liegt, ist jedoch nicht beleuchtet. Wahrscheinlich sind die beiden im hinteren Teil des Hauses. Und was machen sie da? Ich sehe durchs Küchenfenster hindurch Licht auf dem Flur, aber ich kann nichts erkennen. Also schleiche ich um das Haus herum und stehe vor einer kleinen Holzpforte, die mir gerade mal bis zur Mitte des Oberschenkels reicht und zum Garten des Grundstückes führt. Ich steige darüber hinweg, verstecke mich hinter dem Stamm eines Baumes und luge auf eine Grasfläche, die von bunten Blumenbeeten umschlossen wird. Hinten links befindet sich eine kleine weißgetünchte Bank mit passendem Tischchen. Du meine Güte, das ist wirklich alles oberspießig. Einen Moment lang versuche ich, mein Bild von Gregor, der kreativen, wilden Künstlerseele mit dieser Beschaulichkeit in Einklang zu bringen, da nehme ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Ich presse mich dichter an den Baumstamm und luge in Richtung des gläsernen Wintergartens, der anstatt einer Terrasse vor das Haus gebaut ist und von dem Gregor mir schon erzählt hat. Ich erkenne mehrere, mit Laken verhüllte Leinwände und eine riesige Staffelei. Gregor kommt gerade herein, in den Händen je einen großen Farbtopf, die er polternd auf den Boden stellt. Mein Herz klopft bis zum Hals. Ich bin hier draußen, ich bin hier, versuche ich per Telepathie Kontakt zu ihm aufzunehmen, aber Männer sind ja leider nicht besonders sensibel für derlei Dinge. Er steht einfach da und sieht für einen Augenblick durch die verglaste Front in den nächtlichen Himmel hinaus. Ob er an mich denkt? Ich betrachte ihn, wie er dasteht mit seinen wirren Locken, nur mit einem T-Shirt und Boxershorts bekleidet und mein Herz zieht
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