Zauberkusse
rotlackierten Fingernägeln, die vor meinen Augen in Gregors Boxershorts verschwunden sind, reichen mir nicht. Im Moment denke ich zwar, er ist ein Lügner und ein Betrüger, und so einen will ich gar nicht haben, aber spätestens morgen früh werde ich mir das alles wieder anders zurechtlegen. Was habe ich denn schon gesehen? Es war dunkel. Sie standen mehrere Meter von mir entfernt. Wahrscheinlich alles ein riesiges Missverständnis. Er liebt mich. Also muss ich da jetzt rein. Auf Zehenspitzen schleiche ich über die hellen Fliesen des Wintergartens, betrete dann das Wohnzimmer und sehe mich forschend um. Nirgendwo steht ein Laufställchen, keine Puppen, Stofftiere oder Rasseln liegen verstreut auf dem Parkett herum. Tibby wartet am Fuß der Treppe auf mich und geht voran. Atemlos lausche ich nach oben und folge ihr todesmutig in den ersten Stock hinauf. Bei jedem Schritt erwarte ich, dass die Stufe knarrt und mich verrät, aber ich gelange lautlos nach oben. Der Treppe gegenüber liegt das Badezimmer, links zwei geschlossene Türen, die rechts steht halb offen. Zielstrebig geht die Katze darauf zu, ich schleiche hinterher und linse in das Zimmer. Ein riesiger Kleiderschrank mit verspiegelten Türen, ein mit champagnerfarbenem Satin bezogenes Ehebett, zwei eng aneinandergeschmiegte Körper, die ruhig und gleichmäßig atmen. Gregor liegt mit dem Gesicht zu mir und schläft friedlich, von seiner Frau sehe ich nur einen schlanken Arm, der sich von hinten um ihn und auf seine Brust gelegt hat. Mit einem Satz springt Tibby auf das Bett und rollt sich am Fußende der beiden zusammen. Verletzt sehe ich sie an. Jaja, ich verstehe schon, ihr seid eine glückliche Familie und ich darf jetzt sehen, wie ich damit klarkomme. In diesem Moment gibt Gregor ein leichtes Grunzen von sich und dreht sich auf die andere Seite. Ich zucke zurück, haste die Treppe wieder hinunter und ringe keuchend nach Luft. Vor lauter Schreck habe ich völlig zu atmen vergessen. Wir haben getrennte Schlafzimmer, getrennte Schlafzimmer, getrennte Schlafzimmer, hallt Gregors Stimme in meinem Kopf wider. Dieser Lügner, dieser Dreckskerl, dieser …! Die Tränen schießen mir in die Augen. Ich würde sagen, meine Mission hier ist erfüllt. Nichts wie raus! Doch dann fällt mein Blick auf die rechte Wand, die vom Garten aus nicht zu sehen war. Über einem glänzenden, schwarzen Klavier hängt ein riesiges Bild, etwa zwei Meter breit und einen Meter hoch. Wie paralysiert starre ich auf den wohlgeformten, nackten Frauenkörper, der sich, einen Arm hinter den Kopf gelegt, den anderen anmutig auf der Lehne postiert, auf einer Art Diwan räkelt. Lange, dunkle Haare verdecken halb die vollen, weichen Brüste, sinnliche Lippen, geschwungene Hüften. Das ist sie, wird mir sofort klar. Sie sieht genauso aus, wie ich es mir vorgestellt habe. Und Gregor hat auch noch die Frechheit, sie nackt zu malen und hier aufzuhängen.
Der Raum um mich herum beginnt sich zu drehen. Das fehlt mir gerade noch, dass ich jetzt hier bewusstlos umfalle und morgen früh von dem sauberen Pärchen vom Wohnzimmerfußboden gekratzt werde. Ich versuche, meinen Blick zu fokussieren und gleichmäßig ein- und auszuatmen. Tatsächlich wird meine Sicht klarer und ich kann erkennen, auf was ich da meinen Blick gerichtet habe: Auf die aufgerichteten, rosa Nippel der Leinwandschönheit. In diesem Moment setzt irgendetwas bei mir aus. Ich fühle mich, als würde ich mich selber verwundert beobachten: Mit zwei langen Schritten bin ich im Wintergarten, hocke mich vor einen von Gregors Farbtöpfen und hebele den Deckel herunter. Blutrot. Zufrieden wuchte ich den Eimer mit beiden Händen hoch und baue mich damit vor dem Gemälde auf. Einmal Schwung holen, zweimal, dreimal. Ein leuchtendroter Schwall fliegt durch die Luft und landet mit einem Klatschen auf dem makellosen Frauenkörper. Von dem Schwung mitgerissen, stolpere ich über meine eigenen Füße. Um den Sturz mit den Händen abzufangen, werfe ich den Farbeimer von mir, der mit einem lauten Poltern gegen die pseudo-antike Gipssäule kracht, auf der sich eine meiner Meinung nach ungeheuer hässliche Vase ohne Blumen darin befindet. Mit angehaltenem Atem beobachte ich, wie das Ding zu schwanken beginnt. Noch bevor ich mich aufrappeln und hinhechten kann, geht sie klirrend zu Boden. Instinktiv reiße ich die Arme hoch, um mein Gesicht vor den wild im Zimmer umherfliegenden Scherben zu schützen. Als ich sie wieder sinken lasse, fällt durch den
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