Zauberkusse
Sprachgenie ist«, rege ich mich auf.
»Tschuldigung.«
»Ich glaub, ich habe genug erfahren. Du kannst das Ding jetzt ausmachen.« Sie schließt mit einem schuldbewussten Gesichtsausdruck ihren Laptop. Dabei wollte sie mir doch nur helfen. »Ich weiß, du wolltest mir nur helfen«, sage ich versöhnlich und lege ihr die Hand auf den Arm. »Aber vielleicht ist es doch keine so gute Idee, allzu viel über die Tussi zu erfahren. Stell dir mal vor, wir finden ein Foto von ihr und sie sieht aus wie Catherine Zeta Jones.«
»Die find ich ja nicht so toll.«
»Aber du weißt doch, was ich meine«, sage ich ungeduldig.
»Ja, ich weiß, was du meinst. Aber tu mir einen Gefallen und sieh es auch mal so: Selbst wenn sie aussehen sollte wie ein Model, dazu noch klug, reich und liebenswert ist, so ist sie doch nicht zu beneiden.« Was? Das sehe ich aber ganz anders.
»Warum denn nicht«, erkundige ich mich begriffsstutzig und Loretta haut mir mit der flachen Hand gegen die Stirn.
»Weil sie von ihrem Mann betrogen wird. Darum.«
Da hat sie schon recht, das ist nicht schön. Trotzdem, es will mir beim besten Willen nicht gelingen, Mitleid für diese Frau aufzubringen. Dazu tue ich mir selbst viel zu sehr leid. Es ist mittlerweile halb sechs und in einer Stunde fängt meine Schicht im »L’Auberge« an. Das ist ein nobles Restaurant in der Hamburger Innenstadt, nahe dem Thalia-Theater gelegen. Dort arbeite ich seit fast fünf Jahren als Kellnerin. Ich habe schon mit vierzehn Jahren in der Gastronomie gearbeitet und kann mir nicht vorstellen, jemals etwas anderes zu tun. Klar, manche Leute rümpfen die Nase, wenn sie hören, dass ich einunddreißig Jahre alt und Kellnerin bin. Anna würde bestimmt pikiert dreinschauen, möchte ich wetten. Solche Leute denken immer, dass kellnern so eine Art Notlösung für Leute ist, die ihr Studium nicht geschafft haben und auch sonst nichts können. Aber ich wollte nie etwas anderes machen. Mein größter Traum ist es, ein eigenes, kleines Café mit wenigen, ausgesuchten Speisen auf der Karte zu eröffnen. Dafür spare ich seit Jahren eisern und tatsächlich habe ich mittlerweile eine hübsche Summe zusammen. Bis vor vier Wochen war ich jeden freien Nachmittag auf Location-Suche und habe mir sämtliche leer stehenden Ladenlokale angeschaut, die Hamburg zu bieten hat. Als ich Gregor kennengelernt habe, haben sich meine Prioritäten dann allerdings etwas verschoben.
Seufzend schließe ich die Tür zu meiner Wohnung auf, um mich für die Arbeit umzuziehen. Während ich meinen kurzen, schwarzen Rock und eine frisch gebügelte weiße Bluse anziehe, wandern meine Gedanken zu dem Tag vor vier Wochen, als Gregor und ich uns zum ersten Mal begegnet sind. Es war der dreiundzwanzigste August, einer der letzten wirklich heißen Sommertage. Fast dreißig Grad und kein einziges Wölkchen am Himmel. Ich hatte mich mit einem guten Buch in einen der hölzernen Liegestühle an der Alster gelegt. Er saß wenige Meter von mir entfernt an den Stamm eines Baumes gelehnt im Schatten und zeichnete etwas mit Kohle auf einen Block. Mich, wie sich eine halbe Stunde später herausstellen sollte, als er zu mir rüberkam und mir die Zeichnung schenkte. Die mir nicht nur unglaublich ähnelte, sondern auch noch schmeichelte. Gregor ist nämlich Maler, wie er mir gleich darauf erzählt hat, als ich begeistert sein Werk gelobt habe. Und normalerweise malt er mit Ölfarbe. Auf riesengroße Leinwände. Ein echter Künstler. So einen hatte ich bis dahin noch nie persönlich kennengelernt. Der Rest ist Geschichte.
Schnell schiebe ich den Gedanken an Gregor beiseite und eile ins Badezimmer. Wo mich das nasse rote Handtuch, das da zerknüllt auf den Fliesen liegt, sofort wieder an ihn erinnert. Seufzend hebe ich es auf. Dann beginne ich, meinen aalglatten, blonden Haaren mit Hilfe des Lockenstabes zumindest einen leichten Schwung zu verpassen. Dabei erscheint vor meinem inneren Auge wieder das Bild, das ich mir von Anna gemacht habe, obwohl ich keine Ahnung habe, ob es auch nur im Entferntesten der Wirklichkeit entspricht: Dicke, dunkelbraune Locken umrahmen ein Gesicht mit hohen Wangenknochen und funkelnden schwarzen Augen. Eine Sanduhrfigur mit üppigen Brüsten und geschwungenen Hüften. Das Lächeln enthüllt herrliche weiße Zähne, aufgereiht wie Perlen. Das Gegenteil von mir eben: Blond, grünäugig, mit gerade mal einer knappen Handvoll Brust. Wenn die Hände nicht allzu groß sind. Ich schneide meinem Spiegelbild
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