Zauberschiffe 05 - Die vergessene Stadt
der Gedanke, dass die Altvorderen untergegangen waren und die Menschen die Erde geerbt hatten.
Sie ließ die Ansiedlungen der Menschen hinter sich. Wenn sie schon allein leben musste, dann würde sie sich in der Nähe von Kelsingra niederlassen. Dort gab es reichlich Wild, und das Land war so fest, dass sie landen konnte, ohne bis zu den Knien einzusinken. Und wenn ihr danach war, vor den Elementen Schutz zu suchen, würden die uralten Gebäude der Altvorderen ihr Unterschlupf bieten. Sie hatte noch viele Lebensjahre vor sich. Die konnte sie auch dort verbringen, wo wenigstens noch die Erinnerung an Pracht existierte.
Als sie durch den unablässigen Regen flog, suchte sie die Ufer nach Wild ab. Sie hegte jedoch wenig Hoffnung, etwas Lebendiges zu entdecken. Der Fluss strömte nach dem letzten Erdbeben hell und ätzend dahin. Für alles, was keine Schuppen hatte, war er tödlich.
Weit oberhalb von Trehaug stieß sie auf eine Seeschlange.
Zuerst hielt sie das Geschöpf für einen Baumstamm, der von der Strömung flussabwärts getrieben wurde. Sie blinzelte, schüttelte den Regen aus ihren Augen und starrte genauer hin.
Als der Reptilgeruch bis zu ihr heraufdrang, sank sie tiefer, um herauszufinden, was da vor sich ging.
Der Fluss war hier sehr flach, ein rauschender Strom aus milchigem Wasser, der über die harten, scharfen Steine sprudelte.
Auch dies unterschied sich von ihren Erinnerungen. Früher einmal hatte der Fluss eine tiefe Rinne gehabt, die weit bis zu den Städten im Landesinneren führte, sogar bis zu den bäuerlichen Gemeinden und Handelsstädten dahinter. Nicht nur Seeschlangen, auch große Schiffe hatten den Fluss ohne Schwierigkeiten passieren können. Jetzt kämpfte die blaue Schlange ermattet gegen die Strömung eines Flusses an, der sie nicht einmal ganz bedeckte.
Tintaglia kreiste zweimal über der Schlange, bevor sie eine Stelle im Fluss fand, wo sie sicher landen konnte. Dann watete sie flussabwärts bis zu der gestrandeten Seeschlange. Sie bot einen jämmerlichen Anblick. Aus der Nähe betrachtet war ihr Zustand Mitleid erregend. Sie musste schon eine ganze Weile hier gefangen sein. Die Sonne hatte ihr den Rücken verbrannt, und sie kämpfte sich verzweifelt über das steinige Flussbett, das ihre Haut in Fetzen riss. Doch sobald der schützende Schuppenpanzer verletzt war, fraß das ätzende Flusswasser tiefe Wunden in ihren Körper. Sie war so übel zugerichtete, dass Tintaglia nicht einmal ihr Geschlecht bestimmen konnte.
Die Schlange erinnerte die Drachenkönigin an einen Lachs, der seinen Laich abgelegt hat und sich dann erschöpft in die Untiefen treiben lässt, um dort zu sterben.
»Willkommen zu Hause«, sagte sie ohne Sarkasmus oder Verbitterung. Die Schlange betrachtete sie mit ihren wirbelnden Augen und verstärkte dann ihre Bemühungen, weiter flussaufwärts zu schwimmen. Sie floh vor Tintaglia. Weder ihre Panik noch der Geruch des Todes, der ihr anhaftete, waren misszuverstehen.
»Ganz ruhig. Ich bin nicht gekommen, um dir Leid zuzufügen, sondern um dir zu helfen, wenn ich es vermag. Lass mich versuchen, dich in tieferes Wasser zurückzuschieben. Deine Haut braucht Feuchtigkeit.« Sie sprach leise und ließ ihre Worte melodisch und freundlich klingen. Die Schlange ließ von ihren Bemühungen ab. Nicht, weil sie beruhigt gewesen wäre, sondern aus reiner Erschöpfung. Ihre Blicke schossen hier-und dorthin, suchten eine Fluchtmöglichkeit, aber ihr Körper war zu ausgelaugt. Tintaglia versuchte es noch einmal. »Ich bin hier, um dich willkommen zu heißen und dich nach Hause zu führen. Kannst du reden? Kannst du mich verstehen?«
Die Schlange hob zur Antwort den Kopf aus dem Wasser. Sie unternahm den schwachen Versuch, ihre Mähne aufzurichten, aber die Drüsen pumpten kein Gift hinein. »Geh weg«, zischte sie. »Sonst bringe ich dich um!«
»Du redest Unsinn. Ich bin hier, um dir zu helfen. Weißt du noch? Wenn ihr den Fluss hinaufschwimmt, um zu euren Kokongründen zu gelangen, werdet ihr von Drachen begrüßt, die euch helfen. Ich zeige dir den besten Sand, aus dem du deine Hülle machen kannst. Mein Speichel in deinem Kokon wird dich mit den Erinnerungen unserer Spezies versorgen. Fürchte mich nicht. Es ist nicht zu spät. Der Winter steht bevor, aber ich werde dich in den kalten Monaten gut bewachen. Wenn der Sommer kommt, kratze ich die Blätter und den Dreck fort, die dich bedeckten. Die Sonne wird deinen Kokon berühren und zum Schmelzen bringen. Du wirst ein
Weitere Kostenlose Bücher