Zauberschiffe 05 - Die vergessene Stadt
sie die Erinnerungen dieses Männchens an ihre Nachkommen weitergegeben, zusammen mit ihren eigenen. Jemand hätte von seinem fehlgeleiteten Leben profitieren können, und es wäre nicht vergebens gestorben. Sie sah alles, was das Männchen gesehen hatte und gewesen war. Sie kannte seine Enttäuschungen, war bei ihm, als diese Enttäuschungen in Verwirrung umschlugen und es schließlich zu einer bloßen Bestie degenerierte. Bei jeder Wanderung hatte es nach vertrauten Wahrzeichen gesucht und nach Einer, die sich erinnert.
Immer und immer wieder war es enttäuscht worden. Die Winter hatten es wieder nach Süden getrieben, wo es gefressen und seine Kraftreserven aufgefrischt hatte, bis die Jahreswechsel es wiederum nach Norden schickten. Eines wusste sie aus ihrer Drachen-Perspektive: Dass die Seeschlange überhaupt so weit gekommen war, obwohl sie sich nur auf ihre eigene Erinnerung stützen konnte, grenzte an ein Wunder. Sie betrachtete die blanken Knochen, schmeckte das faulige Fleisch in ihrem Mund. Selbst wenn sie der Schlange in tieferes Wasser hätte helfen können – sie wäre dennoch gestorben. Das Rätsel der Seeschlangen, die vor ihr geflohen waren, war damit gelöst. Sie grub noch mehr Knochen aus und betrachtete sie ruhig. Hier war ihr Volk, hier war ihre Rasse! Hier lagen ihre Zukunft und ihre Vergangenheit!
Sie kehrte den Resten der Schlange den Rücken zu. Sollte der Fluss sie doch verzehren, wie schon so viele andere. Zweifellos würde er noch mehr töten – bis niemand mehr übrig war. Sie verfügte nicht über die Macht, das zu ändern. Sie konnte weder den Fluss an dieser Stelle tiefer machen noch seinen Verlauf ändern, damit er näher an dem Ufer mit der silbrigen Erde vorbeiführte. Sie schnaubte. Herrin der Drei Reiche war sie, Herrscherin über Erde, Wasser und Luft! Und dennoch beherrschte sie keins der drei.
Der Fluss kühlte sie aus, und das ätzende Wasser fing an zu stechen. Selbst ihre dicht mit Schuppen besetzte Haut war nicht immun dagegen. Sie watete von den bewaldeten Flussufern in die Mitte des Flusses, wo freier Himmel war, breitete ihre Schwingen aus und verlagerte ihr Gewicht auf die Hinterbeine.
Dann sprang sie ab, sackte jedoch noch einmal tiefer in den Fluss hinein. Der Kies hatte unter ihr nachgegeben. Sie war müde. Einen Augenblick sehnte sie sich nach den harten Landeplätzen, die die Altvorderen liebevoll für ihre geflügelten Gäste gebaut hatten. Hätten die Altvorderen überlebt, dachte sie, würde meine Rasse noch gedeihen. Sie hätten diese flache Stelle im Fluss für die Nachkommen der Drachen einfach umgangen. Aber die Altvorderen waren tot und hatten nur diese erbärmlichen Menschen als ihre Nachkommen hinterlassen.
Sie wollte erneut abspringen, als ihr ein Gedanke kam, der sie innehalten ließ. Menschen bauen Dinge. Konnten sie vielleicht den Fluss ausheben, damit er tief genug für eine Schlange war?
Konnten sie den Fluss umleiten und ihn näher an der silbergrauen Erde vorbeiführen, die die Schlangen für die ordentliche Verpuppung brauchten? Sie überlegte, was sie von den Bauwerken der Menschen bisher gesehen hatte.
Sie konnten es. Aber würden sie es auch tun?
Eine frische Entschlossenheit durchströmte sie. Sie sprang energisch ab, und ihre Flügel hoben sie an. Sie musste bald wieder töten, damit sie den fauligen Geschmack des verdorbenen Fleischs der Seeschlange aus ihrem Maul vertreiben konnte. Das würde sie auch tun, aber dabei wollte sie nachdenken.
Sollte sie sie zwingen oder bestechen? Verhandeln oder drohen? Sie musste alle Möglichkeiten abwägen, bevor sie nach Trehaug zurückkehrte. Sie konnte die Menschen dazu bringen, ihr zu dienen. Vielleicht würde ihre Rasse doch überleben.
Das Klopfen an seiner Kajütentür war etwas zu heftig. Brashen richtete sich auf seinem Stuhl auf und biss die Zähne zusammen. Er ermahnte sich, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen.
Dann holte er tief Luft. »Herein«, sagte er ruhig.
Lavoy trat ein und machte die Tür fest hinter sich zu. Er hatte gerade seine Wache beendet. Sein Ölzeug hatte ihn zwar einigermaßen trocken gehalten, aber als er die Kapuze abnahm, klebte das Haar an seinem Kopf. Der Sturm war nicht heftig, aber der ständige Regen war demoralisierend. Er konnte einen Mann bis auf die Knochen auskühlen. »Ihr wolltet mich sehen«, sprach Lavoy ihn an.
Brashen bemerkte, dass er das »Sir« wegließ. »Ja, das wollte ich«, bestätigte er gelassen. »Da auf der Kommode steht
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