Zauberschiffe 05 - Die vergessene Stadt
rührte ihn, wie keine menschliche Musik es je vermocht hatte. Es sprach zu ihm in der Stimme des Meeres, und Kennit erkannte darin seine Muttersprache.
Plötzlich fiel eine zweite Stimme mit ein. Alle Anwesenden wandten den Kopf. Ein vollkommenes Schweigen breitete sich auf dem Schiff aus und unterdrückte jede menschliche Stimme.
Staunen verdrängte die Angst, die Kennit zunächst wie ein Schlag durchzuckt hatte. Auch dieses Geschöpf war so schön wie das Schiff. Das begriff er jetzt. Die grüngoldene Seeschlange erhob sich wiegend aus den Tiefen und hatte ihre Kiefer weit aufgerissen, während sie sang.
Winter
12. Bündnisse
»Paragon, Paragon. Was soll ich mit dir machen?«
Brashens tiefe Stimme klang sehr leise. Der Regen, der auf das Deck herunterprasselte, war lauter als die Worte des Kapitäns. Er schien nicht ärgerlich zu sein, sondern nur traurig. Paragon antwortete nicht. Seit Brashen befohlen hatte, dass niemand mit dem Schiff reden durfte, schwieg auch Paragon.
Selbst als Lavoy eines Nachts an die Reling getreten war und versucht hatte, ihn mit amüsanten Geschichten aus der Reserve zu locken, war Paragon stumm geblieben. Wenn Lavoy wirklich glaubte, dass Brashen dem Schiff Unrecht getan hatte, dann hätte er längst etwas dagegen unternommen. Seine Untätigkeit bewies nur, dass er in Wahrheit auf Brashens Seite stand.
Brashen umklammerte die Reling mit seinen kalten Händen und lehnte sich schwer dagegen. Paragon zuckte fast zusammen, als ihm die Qual des Mannes entgegenschlug. Brashen gehörte nicht wirklich zu seiner Familie, also konnte er die Gefühle des Mannes nicht immer lesen. Aber in Momenten wie diesen, wenn direkter Kontakt zwischen Haut und Hexenholz bestand, kannte Paragon ihn gut.
»So habe ich es mir nicht vorgestellt, Schiff«, sagte Brashen.
»Ich meine, Kapitän eines Lebensschiffes zu sein. Willst du wissen, was ich mir erträumt habe? Dass ich durch dich irgendwie realer und verlässlicher werden würde. Und irgendwann kein heruntergekommener Seemann mehr wäre, der seine Familie entehrt und für immer seinen Platz in Bingtown verloren hat. Kapitän Trell vom Lebensschiff Paragon . Das klingt doch irgendwie ganz schön, oder? Ich dachte, dass wir beide uns gegenseitig wieder aufbauen würden, Schiff. Ich habe mir ausgemalt, wie wir im Triumph nach Bingtown zurückkehren, ich als Kapitän einer hervorragenden Mannschaft und du, wie du elegant mit deinen grauen Segeln in den Hafen einläufst.
Die Leute würden uns ansehen und sagen: ›Na, das ist ja ein großartiges Schiff, und der Mann, der es führt, versteht sein Handwerk.‹ Die Familien, die uns verstoßen haben, würden sich plötzlich fragen, ob das nicht vielleicht doch ziemlich dumm gewesen ist.«
Brashen schnaubte verächtlich über diese albernen Träume.
»Leider kann ich mir nicht vorstellen, dass mein Vater mich jemals wieder akzeptiert. Ich kann mir nicht einmal denken, dass er ein freundliches Wort für mich übrig hat. Ich werde wohl immer allein bleiben, Schiff, und irgendwann am Ende meiner Tage werden meine nassen und verrotteten Überreste an irgendeinem fremden Strand angespült werden. Als ich noch glaubte, dass wir eine Chance hätten, habe ich mir gesagt: Na ja, das Leben eines Kapitäns ist einsam. Ich glaube kaum, dass ich eine Frau finde, die länger als ein Jahr mit mir zusammenbleibt. Aber ich dachte, auf einem Lebensschiff hätten wenigstens wir beide uns für immer. Ich glaubte wirklich, dass du Gutes bewirken könntest. Ich habe mir vorgestellt, wie ich eines Tages auf deinem Deck liegen und sterben würde. Dann wüsste ich, dass ein Teil von mir bei dir bleibt. Das schien keine so schlechte Sache zu sein. Irgendwann einmal.
Und jetzt sieh uns an. Ich habe zugelassen, dass du wieder getötet hast. Wir segeln mitten in Piratengewässer hinein, mit einer Mannschaft, die sich ständig selbst im Weg steht. Ich habe weder einen Plan noch wüsste ich ein Gebet, wie wir das überleben sollen, und wir kommen mit jeder Welle, die wir durchpflügen, Divvytown näher. Und ich bin einsamer als je zuvor.«
Paragon musste dafür zwar sein Schweigen brechen, aber er konnte einfach der Versuchung nicht widerstehen, einen weiteren Widerhaken in den Mann zu treiben. »Und Althea ist wütend auf dich. Ihre Wut ist so groß, dass ich sie ständig spüren kann.«
Er hoffte, Brashen damit wütend zu machen. Mit Ärger kam Paragon besser zurecht als mit solch abgrundtiefer Traurigkeit.
Ärger bewältigte
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