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Zehnundeine Nacht

Zehnundeine Nacht

Titel: Zehnundeine Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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die Prinzessin. «Es kommt ein Mensch drin vor, der gar nicht da ist.»
    «Da bin ich gespannt», sagte der König, und die Prinzessin erzählte weiter.
    «Seinen ersten lukrativen Auftrag bekam der Mann von einem Bekannten, der für ein halbes Jahr ins Gefängnis musste und nicht wollte, dass seine Geschäftspartner davon erfuhren. Für ihn erfand er eine Krebsoperation samt Chemotherapie.Das erklärte nicht nur den bleichen Teint, sondern auch gleich die kurzgeschorenen Haare. Er versorgte ihn mit einer Liste von Fachausdrücken für Symptome und Behandlungsmethoden und schrieb ihm noch jahrelang zum Geburtstag und zu Weihnachten Postkarten.»
    «Wozu sollte das gut sein?»
    «Wer so viel Zeit in einer Klinik verbringt, macht dort auch Bekanntschaften.«
    «Clever», sagte der König.
    «Gründlich», sagte die Prinzessin. «Aber so einfache Probleme machten ihm schon bald keinen Spaß mehr. In seinem Herzen war er Künstler, und die Wirklichkeiten, die er sich ausdachte, sollten so vielfarbig und lebendig sein wie ein Gemälde oder eine Symphonie.
    Seine erste Kundin in dieser Richtung war eine reiche Witwe. Die guten Jahre ihres Lebens hatte sie mit einem langweiligen Bankier verbracht und wollte sich jetzt in ihren alten Tagen an Abenteuer erinnern, die sie nie gehabt hatte.»
    «Das kann man nicht», sagte der König.
    «Warum nicht?», sagte die Prinzessin. «Ich werde mich morgen auch erinnern, dass du heute nicht hier warst.»
    «Das will ich dir auch geraten haben», sagte der König.
    «Für die alte Dame», erzählte die Prinzessin weiter, «erfand er einen Liebhaber, mit dem sie, wenn ihr Mann auf einer seiner vielen Geschäftsreisen war, die heißesten Liebesnächte verbracht hatte. Er machte ihn auf ihren Wunsch zu einem proletarischen Handwerker, der eigentlich nur in ihre Villa gekommen war, um einen defekten Heizkörper zu reparieren, sie aber plötzlich mit rauhen Händen gepackt und ohne zu fragen geküsst hatte.
    Er lieferte einen ganzen Packen vergilbter Briefe, in der ungelenken Handschrift eines Mannes, der das Schreiben nicht gewohnt ist. Die Umschläge waren an ein Postfach adressiert, und die alte Dame stellte sich gern mit wohligem Schauder vor, wie sie beim Abholen jedes Mal Angst vor Entdeckung gehabt haben würde. Die Kuverts verschnürte er mit einem lila Seidenband, so wie sie es selber getan hätte, wenn die Briefe echt gewesen wären. Manchmal steckten kleine Erinnerungsstücke in den Umschlägen, eine Handvoll getrockneter Rosenblüten oder die Bestellliste eines Pizzakuriers, auf die mit Lippenstift ein Herz gemalt war.
    In den Briefen wurden die heimlich genossenen Nächte in allen Einzelheiten beschrieben, das Quietschen der Bettfedern in einem billigen Hotel und die kleine Narbe an der Innenseite ihres Schenkels, die er immer so gern küsste.»
    «Woher wusste er von ihrer Narbe?», fragte der König. «Hatte sie ihm die gezeigt?»
    «Es gab keine Narbe», sagte die Prinzessin. «Aber nachdem sie die Briefe gelesen und wieder gelesen hatte, nahm die alte Dame eine Rasierklinge und machte sich damit die Erinnerung noch überzeugender.»
    «Sie war verrückt», sagte der König.
    «Sie war glücklich», sagte die Prinzessin. «Als sie starb, fand sich neben den Briefen ein Testament, in dem sie den Lieferanten ihrer Erinnerungen zum alleinigen Erben einsetzte. Er sollte sich, hatte sie geschrieben, in Zukunft ohne Existenzängste nur noch seiner Kunst widmen können.»
    «Erwartest du eigentlich, dass du in meinem Testament vorkommst?», fragte der König.
    «Nein», sagte die Prinzessin. «Ich glaube nicht, dass du lang genug lebst, um eins zu schreiben.»
    Der König lachte lauter, als es nötig gewesen wäre.
    «Man kann sich nicht als ‹Lebenserfinder› in die Gelben Seiten eintragen lassen», fuhr die Prinzessin fort, «oder ein Firmenschild an die Tür hängen, auf dem ‹Erlebnisdesigner› steht. Seine besonderen Fähigkeiten sprachen sich aber doch herum, und es fanden sich immer wieder Kunden.
    Manche der Leben, die er für andere erfand, waren regelrechte Kunstwerke. Da war ein junger Mann, den hatte mit vier Jahren ein Auto angefahren, und seither saß er im Rollstuhl und konnte seine Beine nicht bewegen. Für den dachte er sich eine Jugend voller Abenteuer aus. Zum Beispiel wie er einmal, mit zehn oder elf, von zu Hause weggelaufen und drei ganze Tage nicht zurückgekommen war, wie er sich in einem Zigeunerwagen vor der Polizei versteckt hatte, und wie ein

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