Zehnundeine Nacht
wunderschönes Mädchen mit schwarzen Haaren ihm ein Lied beigebracht und ihm seinen allerersten richtigen Kuss gegeben hatte.
Damit sein Kunde glücklich im Rollstuhl sitzen und sich erinnern konnte, lieferte er alle Details mit. Die Füße des Mädchens, zum Beispiel, das gehörte zu der Erinnerung, waren bis zu den Knöcheln von grauem Staub überzogen gewesen, weil sie doch keine Schuhe besaß. Und als er zu Hause wieder vor der Tür stand, war seine Mutter so leer geweint, dass ihr erleichtertes Schluchzen wie Husten klang.
Er besorgte ihm die Pokale von gewonnenen Fußballturnieren und brach bei einem den Henkel ab, weil sie bei der Siegesfeier übermütig geworden waren und sich die Trophäe gegenseitig zugeworfen hatten. Es gab auch einen Film, indem junge Männer von einem gefährlich hohen Felsen ins Meer sprangen. Die Aufnahme war verwackelt, und man konnte die Gesichter nicht richtig erkennen, aber der eine, der mit den langen Haaren und dem besonders kühnen Sprung, das war der Mann im Rollstuhl gewesen, und er erinnerte sich ganz genau an das Gefühl, wie es war, wenn man durch die Luft segelte wie ein Raubvogel.
Er war dann Stuntman geworden, einer der kommenden Leute in Hollywood, aber bei einem besonders gefährlichen Trick, den sich alle anderen nicht zutrauten, war der Sicherungsdraht gerissen, und er war aus dem brennenden Haus ungebremst in die Tiefe gestürzt. Zu seinen Erinnerungen, die ihm der Lebenserfinder geliefert hatte, gehörten auch die Schreie der Leute und sogar sein letzter Gedanke vor dem Aufprall. ‹Warum schreien sie denn jetzt schon?›, hatte er gedacht, denn im Filmbusiness erschrickt man nicht, wenn etwas passiert, sondern erst, wenn die Kamera auf einen gerichtet ist. Seit jenem Tag war er gelähmt, aber an der Wand hingen die signierten Fotos von befreundeten Stars, und in einem Album klebten Berichte amerikanischer Zeitungen über seinen Unfall. Er war sehr stolz auf sein Leben und erzählte gern davon.»
«Armes Schwein», sagte der König.
«Er hatte wenigstens etwas erlebt», sagte die Prinzessin.
Draußen hörte man Schritte. Sie spürte, wie der König seinen Körper anspannte. «Mach dir keine Sorgen», sagte sie. «Du bist ja nicht hier.»
«Nicht so laut», sagte der König.
Die Schritte gingen weiter, und die Prinzessin fuhr mit ihrer Erzählung fort.
«Die meisten Vergangenheiten, die er erfinden musste, hatten mit Liebesgeschichten zu tun. Nichts schien die Leute so zu bewegen wie Eroberungen, die sie nicht gemacht, und Gelegenheiten, die sie verpasst hatten. Dabei waren es keine heißblütigen Bettszenen voll akrobatischer Verrenkungen, die seine Kunden von ihm haben wollten. Was sie ihm aus den Händen rissen waren romantische Begegnungen voll scheuer Zärtlichkeit.»
«Warum denn das?», fragte der König.
«Ich glaube nicht, dass ich dir das erklären kann.»
«Ist mir auch egal», sagte der König. «Ich hab andere Sorgen. Los, erzähl weiter. Und komm endlich auf den Punkt.»
«Einmal, als er am Seeufer spazieren ging, um sich für eine besonders filigrane Erinnerung, die man bei ihm bestellt hatte, neue Inspiration zu holen, sprach ihn eine Frau an. Eine sehr hübsche junge Frau mit langen hellblonden Haaren.
‹Du musst mich da rausholen›, sagte die Frau. ‹Du kannst mich denen nicht einfach überlassen.›
Er wusste nicht, wer sie war. Zwar kam ihm das Gesicht auf unscharfe Weise bekannt vor, aber er wusste es in keinen Zusammenhang einzuordnen.
‹Tut mir leid ... ›, setzte er an.
Die Frau unterbrach ihn. ‹Ich weiß nicht, ob ich dir das glauben kann›, sagte sie. ‹Ohne dich wäre mir das alles doch nicht passiert.›
Er starrte sie an, und in seinem Kopf waren gleichzeitig zwei ganz verschiedene Gedanken. ‹Sie ist wunderschön›, war der eine. Und der andere: ‹Ich habe diese Frau noch nie gesehen.›
Er fragte sie nach ihrem Namen und versuchte das so beiläufig zu tun, wie man ein verzeihliches Versehen eingesteht, einen vergessenen Regenschirm oder nicht eingeworfenen Brief. Aber ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie sagte: ‹Weißt du eigentlich, wie verletzend das ist?› Sie drehte sich von ihm weg, die langen Haare flogen wie im Wind, und es schien ihm, dass er noch nie eine anmutigere Bewegung gesehen hatte.»
«Anmutig?» Der König presste in ironischer Anerkennung Luft durch die Lippen. «Heute haben wir aber die ganz feinen Worte drauf, was?»
«Sie war eine Frau, zu der feine Worte passten. Ein
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