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Zehnundeine Nacht

Zehnundeine Nacht

Titel: Zehnundeine Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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vor dem Feuer. Es war sehr still. Man hörte nichts als das Knistern der Flammen und von ganz fern das Läuten der Kirchenglocken. Es läuteten viele Glocken in jener Nacht.
    Man hatte damals keine Uhren, und deshalb konnte er nicht wissen, wann Mitternacht war. Er konnte nur warten. Obwohl es doch, seiner Überzeugung nach, gar nichts zu warten gab. Er hatte nie an die Prophezeiung geglaubt. Und trotzdem, jetzt, wo ihr Zeitpunkt näher rückte, beschlich ihn die Angst. Vielleicht hatte er ja unrecht gehabt, und alle andern hatten recht. Vielleicht war es falsch gewesen, einfach weiterzumachen wie in einem ganz gewöhnlichen Jahr. Vielleicht hätte auch er beten müssen oder sündigen oder irgendetwas. Vielleicht...
    Von all dem Nachdenken wurde er müde, und als er wieder aufwachte, war das Feuer ausgegangen, und draußen war es hell. Wenn die Welt tatsächlich untergegangen war, dann hatte er diesen Untergang einfach verschlafen. Aber andererseits ... Wenn es keine Welt mehr gibt, dann jammernauch keine Kühe, weil sie nicht pünktlich gemolken worden sind und ihnen die Euter weh tun. Wenn es keine Welt mehr gibt, frieren die Füße nicht. Wenn man nach dem Ende der Welt aus dem Haus tritt, hört man keine Kirchenglocken. Ein paar läuteten immer noch, aber es waren schon weniger geworden.»
    «Und das ist die ganze Geschichte?», fragte der König.
    «Noch nicht.»
    «Wenn er aufwacht, rufen sie mich an», sagte der König. «Wenn er abkratzt auch. Vorher kann ich doch nicht schlafen.» Er beugte sich aus dem Bett und hob die Zigarre vom Boden auf. «Meinst du, man kann sie noch einmal anzünden?», fragte er.
    «Lieber nicht.»
    «Du hast recht», sagte der König. «Ich hätte doch die teure Sorte nehmen sollen.» Er schmiss die Zigarre auf den Teppich zurück, und die Prinzessin machte mit ihrer Erzählung weiter.
    «Der Erste, der nach Hause kam, war der Bruder, der mit der Ketzerbande herumgezogen war. Sein Bein war schief zusammengewachsen, und seine Stirn war voller Narben von der Dornenkrone.
    ‹Ich habe keinen Schnaps für dich›, sagte der Jüngste. ‹Macht nichts›, sagte sein Bruder. ‹Er hat mir sowieso nie geschmeckt.›
    Über den Weltuntergang redeten sie nicht. Der Jüngste rührte eine Schüssel mit warmem Hirsebrei an, und der Mittlere löffelte ganz langsam und sagte: ‹Es tut gut, wieder in seinem eigenen Haus zu sein.›
    ‹Das ist nicht mehr dein Haus›, sagte der Jüngste. ‹Duhast deinen Anteil verkauft. Für zwei Fässer Wein und vier geräucherte Schinken.›
    ‹Das werden wir noch sehen›, sagte der Mittlere.
    Der älteste Bruder kam erst nach ein paar Tagen. Er war unter den Allerletzten gewesen, die in der Kirche ausgeharrt hatten. Es konnte ja sein, hatten sie sich gedacht, dass die Prophezeiung doch richtig war, und sich nur in die Zeitrechnung ein kleiner Fehler eingeschlichen hatte. So etwas konnte leicht passieren im Lauf von tausend Jahren. Aber irgendwann war ihr Hunger doch stärker gewesen als ihr Glaube.»
    «Das ist immer so», sagte der König.
    «Wahrscheinlich», sagte die Prinzessin. «Als der Älteste zur Tür hereinkam, war er ein bisschen verlegen. Es war ihm peinlich, dass die Welt nicht untergegangen war. Er machte deshalb ein umso strengeres Gesicht und befahl: ‹Bring mir Brot.›
    ‹Du könntest mich höflich darum bitten›, sagte der Jüngste.
    ‹In meinem eigenen Haus befehle ich›, bekam er zur Antwort.
    ‹Das ist nicht mehr dein Haus›, sagte der Jüngste. ‹Der Hof gehört jetzt mir. Du hast mir deinen Anteil verkauft, um Geld für Almosen zu haben.›
    ‹Aber die Welt ist nicht untergegangen›, sagte der Älteste.
    ‹Geschäft ist Geschäft›, sagte der Jüngste.
    ‹Das wollen wir erst noch sehen›, sagte der Älteste.»
    «Ein ganz mieser Typ», sagte der König.
    «Wie würdest du reagieren, wenn einer mit dir einen Vertrag abschließt und will ihn dann nicht einhalten?»
    «Heute hat es einer probiert. Aber ich hatte einen zweiunddreißiger Ringgabelschlüssel zur Hand. Und jetzt sind meine Polster versaut. Erzähl weiter.»
    «Die drei Brüder wurden sich nicht einig», fuhr die Prinzessin fort. «Der Jüngste bestand darauf, dass der Hof jetzt ihm gehöre ...»
    «Sehr richtig», sagte der König.
    «... aber die beiden anderen widersprachen ihm. Der Mittlere stellte sich auf den Standpunkt, zum Zeitpunkt ihrer Vereinbarung sei er betrunken gewesen ...»
    «Sein Problem», sagte der König.
    «... man habe ihm seinen

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