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Zehnundeine Nacht

Zehnundeine Nacht

Titel: Zehnundeine Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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verschenken. Der jüngste Bruder, dem der Hof jetzt allein gehörte, arbeitete weiter, wie er es gewohnt war, bis das Jahr älter wurde und es auf dem Feld nichts mehr zu tun gab. Dann saß er im Haus vor dem Feuer und knackte Nüsse. Der Herbst war lang vorbei. Am Tag wurde es nicht mehr richtig hell, und in der Nacht gefror das Wasser im Krug. Man konnte nichts mehr tun, als auf das Ende der Welt zu warten.»
    «Warten ist Scheiße», sagte der König. «Sie haben ihn ins Krankenhaus gebracht. Den, der mir die Polster versaut hat. Sie haben uns abgenommen, dass es ein Werkstattunfall war, aber vielleicht wacht er ja doch noch einmal auf und erzähltihnen, wie’s wirklich war.» Er saugte an seiner Zigarre herum, aber die war endgültig ausgegangen. Er schmiss sie wütend auf den Teppich. «Na ja», sagte er nach einer Weile, «vielleicht habe ich Glück, und er kratzt ab.»
    «Ja», sagte die Prinzessin. «Vielleicht hast du Glück.»
    «Warten ist Scheiße», sagte der König. «Erzähl weiter.»
    «Es wurde Dezember. Dezember neunhundertneunundneunzig. Sonst zogen in dieser Zeit die Winterdämonen mit ihren grässlichen Masken von Haus zu Haus und ließen sich mit einem Becher Wein oder einer Kupfermünze milder stimmen. In diesem Jahr blieben sie aus. Wer sich vor bösen Geistern schützen wollte, musste selber einen Mistelzweig über die Tür hängen oder einen toten Hund unter der Schwelle vergraben. Das waren althergebrachte Mittel, die sich bewährt hatten. Aber wenn um Mitternacht die Hörner zur letzten Schlacht bliesen, würde dann auch nur eine einzige Schwelle an ihrem Ort bleiben? Würde nicht jede Tür aus ihren Angeln springen? Würde es nicht Feuer und Schwefel vom Himmel regnen wie in Sodom und Gomorrha? Würde nicht Finsternis über das Land kommen wie im widerspenstigen Ägypten? Würden nicht die Mauern einstürzen wie dazumal in Jericho?»
    «Du hast den Ton gut drauf», sagte der König. «Du musst in verdammt vielen Hotels geschlafen haben.»
    «In zu vielen», sagte die Prinzessin.
    «Jetzt hast du ja mich», sagte der König.
    Ein Nachtfalter hatte einen Spalt im Fensterladen gefunden und flatterte um die Lampe.
    «Ja», sagte die Prinzessin, «jetzt hab ich ja dich.»
    «Erzähl weiter», sagte der König.
    «Je näher der Tag des Weltuntergangs kam, desto mehr Leute glaubten daran. Manche zündeten ihre eigenen Häuser an und hofften damit den Weltenbrand aufzuhalten, so wie man ein Stoppelfeld absengt, um dem Waldbrand keine Nahrung zu lassen. Andere erinnerten sich daran, dass man in biblischen Zeiten den Herrgott mit Tieropfern milder gestimmt hatte. Sie schlitzten ihrem Vieh die Kehlen auf und manchmal auch ihren Kindern. Es gab solche, die auf Berge stiegen, so hoch hinauf, wie sie nur konnten, in der Hoffnung, dass sie dort oben die Posaune des Jüngsten Gerichts nicht würden hören müssen. Viele erhängten sich oder schlugen Löcher in das Eis der zugefrorenen Seen und sprangen hinein. Die Kirchen waren voll, und in den Häusern saßen die Leute im Dunkeln, weil sie all ihre Kerzen vor den Altären angezündet hatten.»
    «Und die Verrückten mit ihren Orgien?», fragte der König.
    «Denen gingen langsam die Sünden aus. Im Spätsommer hatten sie vom Ende der Welt erfahren, und jetzt war Winter. Alles, was ihnen an Verbotenem eingefallen war, hatten sie ausprobiert. Aber je selbstverständlicher das Sündigen wurde, desto langweiliger wurde es auch. Ein paar von ihnen waren auch abtrünnig geworden, manchmal von einem Moment zum andern, hatten sich den Büßern angeschlossen und sangen jetzt die Bittgesänge lauter als alle andern. Wieder ein paar verschwanden ohne Erklärung, hatten am Abend noch mit ihnen getrunken und waren am Morgen einfach nicht mehr da. Als der Dezember zu Ende ging, waren sie zu wenige, um noch einen Karren zu ziehen, vor allem, da der Wein getrunken und der Schinken gegessen war.Der mittlere Bruder musste auf seinem schmerzenden Bein hinter ihnen her humpeln. ‹Ich bin doch euer König, euer Erlöser›, rief er und schwenkte seine Dornenkrone. Aber sie warteten nicht auf ihn, und irgendwann war er ganz allein.
    Dann kam der einunddreißigste Dezember.»
    «Und die Welt ging nicht unter», sagte der König.
    «Natürlich nicht», sagte die Prinzessin. «Es trifft nur immer die Dinge, die einem Spaß machen.»
    «Das ist wahr», sagte der König.
    «In der Silvesternacht», erzählte die Prinzessin weiter, «saß der jüngste Bruder ganz allein zu Hause

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