Zeichen im Schnee
meldete sich und bat sie zu warten, dann hörte sie Dereks leisen, vertrauten Ton.
«Edie, hi. Ich habe auf deinen Anruf gewartet.»
«Wer war das eben am Apparat?»
«Zach Barefoot. Der Freund vom Verband der einheimischen Polizei, von dem ich dir erzählt habe. Ich wohne in seinem Gästezimmer.»
Richtig, Derek hatte es ihr gesagt. Sie war erleichtert und kam sich dabei ein bisschen albern vor. Im Verlauf des Tages hatte sie fast vergessen, weshalb sie eigentlich nach Alaska gekommen war. Dennoch wollte sie das Geschehene so geheim wie möglich halten, bis sie Zeit hatten, ausführlich darüber zu sprechen.
«Ist Zach noch bei dir?»
«Nein, warum?» Dereks Stimme klang beunruhigt. Ohne eine Antwort abzuwarten, fragte er: «Ist Sammy gut weggekommen?»
«Ja. Glaub ich zumindest. Ich war nicht dabei.»
«Ich denke, wir hatten vereinbart, dass du bei seinem Start dabei bist.» Derek klang verärgert.
Sie schilderte ihm alles, was passiert war. «Was mich wahnsinnig gemacht hat – ich hatte den Eindruck, dieser Truro wollte mich in eine bestimme Ecke drängen und von mir hören, diese Altgläubigen hätten es getan.» Sie wusste, dass Derek ihre Vorbehalte gegen fromme Spinner aller Art verstehen würde. Es waren Missionare und Fanatiker gewesen, die ihnen gesagt hatten, die alten Gebräuche seien von Übel, auch wenn sie in einigen Fällen Leben retteten, zum Beispiel, wenn der Bruder eines toten Jägers dessen Witwe zu seiner zweiten Frau nahm. Aber es war hauptsächlich die absolute moralische Kompromisslosigkeit, die sie verärgerte. Man war entweder für sie oder gegen sie. Man zählte zu den Geretteten, oder man war Teufelswerk.
Derek hörte Edie bis zum Ende an und zeigte sich mitfühlend. Er versuchte, sie zu bewegen, für ein paar Tage nach Nome zu kommen. «Mir gefällt die Vorstellung nicht, dass du allein bist.»
Sie stieß ein trockenes Lachen aus.
«Ich weiß», sagte er. «Der einsame Wolf. Auch einsame Wölfe müssen manchmal zum Rudel zurückkehren.»
«Bist du das, Derek? Das Rudel?»
«Das ist lächerlich, Edie.» Wieder klang er verärgert. «Ich bin dein Freund.»
Der Rüffel fuchste sie ein wenig, aber sie wusste, er war verdient. Sie schwieg einen Moment, um zu zeigen, dass sie verstanden hatte.
«Dann tu mir als mein Freund einen Gefallen. Sag Sammy nichts davon, okay?» Sie hatte bereits beschlossen, für die Dauer des Rennens nicht mit ihrem Ex zu sprechen, es sei denn, es ließ sich nicht vermeiden. So, wie sie ihre Rolle verstand, gab es keinerlei Notwendigkeit, mit ihm zu reden, sofern während des Rennens nichts passierte, das ihren Beistand erforderte. Die laufende Verständigung mit ihm erfolgte über Derek bei der Iditarod-Zentrale in Nome. Sie traute sich nicht zu, so selbstlos zu sein, Sammy nichts von dieser Geschichte zu erzählen.
«Wenn du es für das Beste hältst», meinte Derek, klang aber nicht überzeugt.
«Es ist bloß, er wollte das Iditarod-Rennen fahren, seit ich ihn kenne. Er hat immerzu davon gesprochen, als wir verheiratet waren. Wenn er Wind davon kriegt, was hier los ist, setzt er sich ins nächste Flugzeug nach Anchorage, weil er meint, er könnte mich retten.»
«Verstehe», sagte Derek nur.
Edie lächelte vor sich hin. Ihrer Erfahrung nach hegten die meisten Männer Rettungsphantasien, besonders, wenn es um Frauen ging.
«Aber weißt du, Edie, ich glaube wirklich, dies ist eine Sache für die Polizei. Willst du nicht herkommen?»
«Ich überleg’s mir», sagte sie, um ihn bei Laune zu halten. Sie hatte Derek gern, bewunderte ihn sogar. Zugleich war ihr aber klar, dass es einiges an ihr gab, das er nie verstehen würde.
Später, im Bett, bemühte sie sich, das Bild des toten Babys aus ihren Gedanken zu verbannen.
«Warum ich?», fragte sie sich, als ob ihr Herz die Antwort nicht schon wüsste.
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4
Derek Palliser wurde von einem ungewohnten Geräusch geweckt. Zuerst dachte er, es sei die Türklingel vom Polizeirevier daheim in Kuujuaq, dann besann er sich, dass er im Haus seines Freundes Zach Barefoot in Nome an der Nordwestküste Alaskas war. Gleich darauf fiel ihm auch wieder ein, weshalb er hier war. Edie Kiglatuk hatte ihn dazu verleitet, seinen Jahresurlaub zu nehmen, um nach Alaska zu kommen und Sammy Inukpuk beim Iditarod-Rennen zu unterstützen, das dieser mit der Begründung antrat, er kenne seine Hunde und habe kein anderes Leben. Derek hatte zugesagt, unter der Bedingung, dass er sich an der Ziellinie
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