Zeichen im Schnee
funkelnden Energie und den wissbegierigen, zornigen Augen erinnerte Edie an ihr jüngeres Ich, und einen Moment lang drängte es sie, Stacey von dem Geisterbären zu erzählen und davon, was sie im Wald gefunden und warum sie die ganze Nacht nicht geschlafen hatte. Doch da schwang die Tür auf, ein Gast kam herein, und der Moment war vorüber.
Um die Zeit totzuschlagen, während sie auf das Frühstück wartete, blätterte Edie die Sonntagsausgabe des
Anchorage Courier
durch. Nachrichten vom Iditarod-Rennen beherrschten die Titelseite. Steve Nicols, der Favorit, lag in Führung und hatte bereits den Kontrollpunkt Yentna passiert, als die Zeitung in Druck gegangen war. Inzwischen dürfte er den Ausläufern der Alaska-Gebirgskette zustreben. Darunter stand ein Artikel über kürzlich herausgegebene Statistiken, die besagten, dass sexuelle Belästigung und Vergewaltigung in der Stadt doppelt so oft vorkamen wie im Landesdurchschnitt. Ganz unten auf der Seite war in einer kleinen Spalte vermerkt, dass bei der feierlichen Eröffnung eine «verzweifelte Einheimische» für Überraschung gesorgt habe, die sich auf Chuck Hillingberg, den Bürgermeister von Anchorage, gestürzt hatte. Am Ende der Meldung wurde auf den Leitartikel im Inneren des Blattes hingewiesen, der mit «Hillingberg – eine frische Brise» überschrieben war, aber Edie hatte keine Lust, sich lange genug mit dem Artikel zu befassen, um zu ergründen, was damit gemeint war. Sie blätterte lieber weiter, auf der Suche nach einer Meldung über die Entdeckung des toten Babys, und fand sie in einem einzigen Absatz unten auf Seite 4 neben dem Falz.
Eine Passantin fand am Samstag im Wald nördlich von Wasilla die Leiche von Lucas Littlefish, dem vier Monate alten Sohn der in Homer gebürtigen TaniaLee Littlefish. Der in ein reich verziertes Zeremonientuch gehüllte Leichnam war in einem traditionellen Geisterhaus abgelegt worden. Ein Sprecher des Polizeireviers von Anchorage erklärte, dass der Fall als verdächtig eingestuft werde und man einen 54 -jährigen Mann verhöre, der ein Angehöriger der Altgläubigen-Gemeinde unweit des Meadow-Sees sein soll.
Sie hatten das Alter falsch angegeben. Das Baby war keine vier Monate alt. Edie ließ sich den Namen auf der Zunge zergehen, spürte den Lauten in ihrer Kehle nach. Lucas Littlefish. Kein Name, den man leicht vergisst. Dass sie ihn nun kannte, machte den Fall umso bedrückender für sie. Sie dachte daran, wie der Geist des Jungen, auf halbem Weg zwischen den Lebenden und den Toten weilend, durch den Wald wanderte, nur mit einem Bären als Trost und Gefährten, der die Farbe abgestandenen Rauchs hatte.
Nach dem Frühstück ging sie ein paar Straßenecken weiter in ein Internet-Café, bezahlte für eine Stunde Surfzeit und setzte sich hin, um über die Altgläubigen herauszufinden, so viel sie konnte. Andere –
qalunaat
mit Sicherheit, aber auch Inuit – würden sie wohl für ein bisschen abgefahren halten, das wusste sie. Aber sie fühlte sich nicht abgefahren. Sie fühlte sich angetrieben.
Sich ein komplettes Bild zu machen, war nicht so einfach, wie sie es sich vorgestellt hatte. Über die Altgläubigen gab es Dutzende Webseiten, die alle in Einzelheiten voneinander abwichen. Nach dem, was sie sich aus den diversen Berichten zusammenreimen konnte, war die Gruppe Mitte des siebzehnten Jahrhunderts von der Hauptströmung der russisch-orthodoxen Kirche abgefallen, und zwar, so schien es Edie, wegen obskurer Details bei der Form des orthodoxen Kreuzes. Die Altgläubigen beteten vor einem Kreuz mit Fußraste und einem Kopfbalken, was ihrer Behauptung nach die einzig wahre Darstellung des Kreuzes war, an dem Jesus gekreuzigt wurde. Die orthodoxe Kirche hielt dagegen, dass das Originalkreuz nur den Kopfbalken hatte. Es gab noch weitere Unterschiede. Die Altgläubigen hatten das Priestertum abgeschafft; sie zogen es vor, die religiöse Autorität turnusmäßig den Gemeindeältesten zu übertragen. Kein Wunder, dass die orthodoxe Kirche nichts davon hielt und die Altgläubigen sich ausgeschlossen sahen. Am Ende meinten sie keine andere Wahl zu haben, als Russland für immer zu verlassen und in eine Gegend der Welt zu gehen, wo es ihnen freistand, die Version der Orthodoxie zu praktizieren, die sie für die reinere, ältere hielten. Nach dem, was Edie in Erfahrung gebracht hatte, waren sie seitdem durch die ganze Welt gezogen.
Immer mal wieder hatten sich Splittergruppen gebildet, bestrebt, einen Ort zu finden,
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