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Zeichen im Schnee

Zeichen im Schnee

Titel: Zeichen im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melanie McGrath
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Besitzer sie abholen konnten. Das stand in dem Handbuch, das Derek auf dem Flug hierher zu hastig gelesen hatte. «Sie behalten ihn notfalls ein paar Tage, aber Sie haben doch Ihre Freundin dort, die sich um solche Sachen kümmert, nicht? Sie braucht was, um sich von dem ganzen Schlamassel mit dem Baby abzulenken.»

[zur Inhaltsübersicht]
    5
    In dem Moment, als Edie das Licht ausmachte, erschien das Gesicht des toten Babys in ihrem Kopf, als hätte jemand es dort eingraviert. Schließlich gab sie jeden Gedanken an Schlaf auf. Sie stieg früh aus dem Bett, duschte, und während sie sich die Haare flocht, versuchte sie sich auf Sammy zu konzentrieren. Ihr Ex dürfte inzwischen gute hundertfünfzig Kilometer hinter sich haben. In wenigen Tagen würde er die hohen Gipfel der Alaska-Gebirgskette erreichen. Dahinter lag der Kuskokwim-Gebirgszug, dem folgte eine 240 Kilometer lange schwierige, holprige Strecke über das Eis auf dem Yukon River, ehe er dann zum Packeis des Norton Sunds gelangen würde.
    Sammy ging es nicht um den Sieg, auf den er auch keine großen Aussichten hatte. Dennoch brauchte er dieses Rennen so dringend, wie er in seinem Leben nur etwas brauchen konnte. Mit Sicherheit so sehr, wie er sie, Edie, jemals gebraucht hatte. Ungefähr drei Monate nach Joes Tod hatte er begonnen, von seiner Teilnahme an dem Rennen zu sprechen, und seitdem hatte er nicht mehr damit aufgehört. Er hatte das brennende Bedürfnis, etwas anderes zu tun, sich auf nie gewagte Weise zu beweisen. Sobald sein Entschluss feststand, das Rennen zu fahren, hatte er seine ganze Energie auf die Instandsetzung seines Schlittens, das Trainieren seines Hundegespanns und das Aufbringen des Geldes verwandt. Alle diese Betätigungen hielten ihn bei Verstand. Nach einem Jahr hatte er sich den Tod seines Sohnes noch nicht verziehen. Für Sammy war das Iditarod-Rennen die perfekte Verdrängungsaktion, doch es war noch mehr als das. Die Teilnahme war eine Chance, seinen verletzten Stolz zu heilen, sich selbst davon zu überzeugen, dass er, obwohl er als Beschützer seines Sohnes versagt hatte, immer noch ein Mann und Dinge zu leisten imstande war, derentwegen die Männer in die Welt gesetzt wurden.
    Es war lange her, seit Edie und Sammy vertraut miteinander gewesen waren, doch das Wissen, dass er so weit fort war, steigerte ihr Gefühl des Alleinseins, und das Wachsein in den frühen Morgenstunden verstärkte nur noch ihre Einsamkeit. Ihr war, als sei sie in etwas hineingesogen worden, das sie nicht verstand und das aufzuhalten sie nicht die Kraft hatte. Emotionen, die über Jahre in Schach gehalten worden waren, schlichen sich wieder in ihr Bewusstsein, als beginne sich eine Art Muskelgedächtnis zu regen. Der Junge im Schnee zog sie zurück in eine Zeit, die sie vergessen wollte. Manche Gefühle werden Teil des Körpers, dachte sie. Man kann sie jahrelang ignorieren, und dann melden sie sich eines Tages zurück, und es ist schier unmöglich, an etwas anderes zu denken.
    Sie zog ihre Kälteschutzkleidung über, verließ das Apartment und stapfte durch den festgetretenen Schnee, der noch mit nächtlichem Eis überkrustet war. Sie ging die J Street entlang zum Café
Schneeeule
, dem einzigen Lokal, das sie in Anchorage aufgetrieben hatte, wo man etwas annähernd Anständiges zu essen bekam. Stacey, die Frühschichtkellnerin, eilte herbei und führte sie an einen Tisch. Sie und Stacey hatten sich schon darüber ausgetauscht, was für Mühe lange Haare machten – das Bürsten und Trocknen und Bändigen, das sie erforderten –, und jetzt bewunderte die Kellnerin das Zickzackmuster, zu dem Edie ihre Zöpfe geflochten hatte. Nicht, dass Stacey selbst auf Zickzackzöpfe Wert legte. Sie begriff sich, erzählte sie Edie, als Nord-Gruftie und trug zum Beweis Schädel-Tattoos an den Handgelenken.
    «Meine Oma hatte eine Tätowierung», sagte Edie, und Staceys Blick besagte, dass sie den Rest dieser Geschichte hören wollte. «Es war ein Initiationsritus. Man hat kleine blaue Strahlen und Barthaare eintätowiert, hier oben.» Sie fuhr mit dem Finger über ihre Oberlippe. «Das war ein Tribut an die
ugjuq
, die Bartrobben, die uns damals am Leben erhalten haben. Das tun sie jetzt nicht mehr.»
    Stacey machte ein langes Gesicht. «Ich nehme an, ihr habt heute andere Sachen, die euch am Leben erhalten.»
    Edie lachte. «Manchmal frage ich mich, welche das sind.» Stacey war natürlich eine
qalunaat
und gehörte somit zu einer anderen Welt, doch etwas an ihrer

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