Zeichen im Schnee
Fahrt verlangsamte und schließlich ganz stehen blieb. Sie versuchte, die Augen zu öffnen, doch die Wimpern waren inzwischen fest zusammengefroren. Der Fahrer stieg ab, und sie wurde aus dem Sattel gezerrt. Edie stürzte und fiel auf die Seite in einen Haufen trockenen Schnee. Sie konnte die Augen immer noch nicht aufmachen, aber das laute Motorengeräusch und der Abgasgestank verrieten ihr, dass das Fahrzeug nicht weit weg sein konnte. Etwas wurde von dem Schneemobil hinuntergeworfen, dann durchtrennte jemand mit einem Messer die Fesseln an ihren Handgelenken. Die beiden Männer schrien sich etwas zu, die Motoren heulten auf, dann traf sie eine Ladung Schnee, als das Fahrzeug direkt neben ihr umdrehte. Das Schneemobil fuhr röhrend an, und die nächste Ladung Schnee landete in ihrem Gesicht. Sie lauschte auf den leiser werdenden Klang der Motoren. Dann war nur noch der kreischende Wind zu hören. Sie waren allein.
Plötzlich fiel ihr auf, dass sie nicht mehr zitterte.
Sie setzte sich mühsam auf, fing an zu rufen und verspürte blitzartige Erleichterung, als Sammy und Derek antworteten.
«Nicht bewegen! Ich kann laufen!», schrie sie. «Ich komme zu euch.» Ihre Augen waren immer noch zugefroren. Obwohl es sich anfühlte, als hätte sie Sand in den Augenhöhlen, fing Edie an, abwechselnd heftig mit den Augen zu rollen und wieder locker zu lassen. Das machte sie so lange, bis sie dachte, sie müsste vor Schmerzen in Ohnmacht fallen, doch dann spürte sie die Wimpernspitzen langsam weicher werden. Sie fing an, die Lider auseinanderzuzwingen. Sie spürte, wie die Wimpern eine nach der anderen an der Wurzel ausrissen. Dann sah sie sich um. Sie waren mitten draußen auf dem Meereis. Die Sicht war miserabel. Der Wind kam jetzt aus Ostnordost und fegte ihr beißenden Schnee in Ohren, Mund und Nasenlöcher. In der Ferne meinte sie auf dem Eis einen dunkleren Schatten zu erkennen. Sie hoffte, dass es Derek oder Sammy war, den sie dort liegen sah. Sie wusste, dass sie so schnell wie möglich zu ihnen musste, und wollte ihre Beine zwingen, sich zu bewegen, versuchte aufzustehen, aber nichts geschah. Sie versuchte es noch mal, noch dringlicher, aber ihre Beine regten sich nicht. Trotzdem war ihr inzwischen seltsam ruhig zumute. In Bedingungen wie diese war sie hineingeboren worden, es war das, was sie kannte.
Weil Edie ihre Finger nicht mehr spürte, benutzte sie die Ellenbogen, um ihre Beine so lange zu rubbeln, bis sie sich mit einem stechenden Schmerz zurückmeldeten. Dann stand sie auf. Zuerst noch wackelig in den Knien, stemmte sie sich schließlich gegen den Wind, der sie jeden Augenblick wieder zurück aufs Eis zu werfen drohte. Obwohl ihre Augen sich anfühlten, als würden sie sandgestrahlt, gelang es ihr, ein paar Schritte weit zu sehen. Schritt für Schritt kämpfte Edie sich durch das peitschende Schneegestöber auf den dunklen Fleck auf dem Eis zu. Es war Derek, der auf der Seite im Schnee lag.
Sie berührte ihn mit dem Arm. Seine Augen waren nicht ganz geschlossen, doch er konnte nichts sehen. Sein Gesicht trug die verräterisch wächsernen Züge von Erfrierungen. Auch bei ihm waren die Fesseln durchtrennt worden. Er stöhnte leise. Edie stand auf und sah sich um, konnte aber in dem Schneegestöber nichts entdecken. Derek gab ein hustendes Geräusch von sich. Sie sah zu ihm hinunter und merkte, dass er versuchte, ihr mit den Fingern ein Zeichen zu geben. Doch seine Finger waren zusammengefroren, und es sah aus, als würde er einen Handklumpen hoch halten. Die Erfrierungen ließen die Hände bereits anschwellen.
Sie kniete neben ihm nieder. «Versuchst du, mir zu sagen, wo Sammy ist?», rief sie ihm ins Ohr.
Er nickte.
Sie rief Sammys Namen und hörte ein schwaches Geräusch. Mit aller Kraft hievte sie Derek in eine aufrechte Sitzposition und rieb mit den Ellenbogen seinen Körper ab.
«Reib dich ab, bis ich wiederkomme. Denk an Lemminge», sagte sie. «An die vielen verschiedenen Lemmingarten und die ganze Forscherei, die du noch zu erledigen hast!»
Derek nickte schwach. Wären seine Lippen nicht zusammengefroren, hätte sein Gesichtsausdruck für ein Lächeln durchgehen können.
Sie fand Sammy ganz in der Nähe, mit dem Gesicht nach unten auf dem Eis, die Arme zwischen Brust und Knie gezogen. Er zitterte heftig. Augenbrauen und Nase waren mit Frost überzogen, aber als Edie näher kam, hob er den Kopf und blinzelte ihr zu. Sie beugte sich über ihn und rieb ihn ab. Seine Haut war gefroren, aber die
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