Zeig mir den Tod
gedacht, dass ich das Insulin dabeihabe und …« Etwas drückte von ihrem Magen die Speiseröhre hoch. Sie eilte zur Spüle, würgte gelblichen Schleim in das Becken und schmeckte Galle und Säure.
»Rebecca hat also nicht freiwillig mitgemacht.«
»Sie denkt, dass Räuber sie entführt haben.«
»Und sie ist seit Samstag allein! Oder haben Sie sie versorgt?«
Stumm schüttelte sie den Kopf.
»Warum nicht?«
»Ich konnte nicht. Ich hab Fieber gehabt und geheult und gekotzt und …«
»Sie hätten uns anrufen können.«
»Sie hätten mich eingesperrt! Ich hab doch mitgemacht.«
»Lebt Rebecca noch?«
Sie presste die Lippen aufeinander und hob kurz die Schultern.
»Haben Sie die Nachrichten geschickt?«
»Ja. Marius ist nie aus dem Versteck raus. Ich hab alles draußen gemacht. Ich hab sie auch versorgt. Kekse für Marius und Gemüse für Rebecca und Wasser und eine neue Decke. Es hätte nichts schiefgehen können. Auch ohne Insulin. Ein paar Tage geht das. Aber nicht mit so einer fiesen Erkältung.« Sie schluckte schwer. »Ich wollte Marius doch nur helfen, sich an dem Arschloch zu rächen. Er hatte doch niemanden außer mir.«
»Wo ist Rebeccas Handy?«
»Oben«, flüsterte Nessy. »In meinem Zimmer.«
»Und Rebecca hat Sie nie gesehen?«
»Marius hat ihr Schlaftabletten gegeben, wenn er wusste, dass ich komme. Es war immer um dieselbe Zeit. Seine Mutter schluckt Tonnen von dem Zeug. Seit Jahrzehnten. Seit diese Annika verschwunden ist.«
Ihr Vater grummelte etwas von »gute Mama« und »Liebe für ewig« und fuchtelte mit einem Arm in Nessys Richtung, verstummte und trank weiter.
»Rebecca ist ohne Medikamente da draußen, Frau Sigismund. Und Marius hat sie geliebt. Sie haben das selbst gesagt. Sie sagen« – Freitag sah sie lange an –, »er hätte nicht gewollt, dass auch sie stirbt. Wo ist Rebecca?«
Scheiße, dachte Nessy, scheiße, scheiße! Und schon spürte sie wieder Torbens Faust in ihrem Gesicht, die Explosion in ihrem Kopf, das Dröhnen in den Ohren und das Brennen, das wieder aufgeflammt war, als Torben vorhin angerufen hatte. »Nur als Erinnerung, Puppe. Wenn du mich verrätst, bist du tot!« Sie hatte das Telefon umklammert, als er leise lachte. Ihr war klar gewesen, was sein nächster Schritt sein würde, noch bevor die Leitung tot war. Wenn sie ihm jetzt die Polizei auf den Hals hetzte, würde er sie später erschlagen. So, wie er die kleinen Katzen mit dem Brett erschlagen hatte, unter dem die Mutterkatze ihre vier Jungen versteckt hatte. Und wie er dem Hund seiner Tante den Bauch aufgeschlitzt hatte, als die im Krankenhaus war und ihm das Tier anvertraute. Dem anständigen, verantwortungsbewussten Anwaltssohn. Wie stolz er das erzählt hatte! Die Tränen strömten erneut über ihr Gesicht, und sie sah die Männer wie durch einen Schleier. »Er bringt mich um«, flüsterte sie.
»Wer?«
»Torben.« Als sie seinen Namen sagte, glaubte sie sich tot. Aber es war egal. Ohne Marius war das Leben nicht lebenswert. »Torben hat herausgefunden, dass Marius und ich ein Paar waren. Und … und jetzt …«
»Bedroht er Sie.« Ehrlinspiel wies auf ihre Wange. »Frau Sigismund, wir schützen Sie. Wir tun alles, um …«
»Einen Scheißdreck tun Sie. Was können Sie schon machen? All die Frauen, die von Typen wie Torben verprügelt werden und irgendwann tot sind. Aber es spielt keine Rolle mehr.« Sie blickte die Polizisten an. »Ich habe die ganze Zeit gedacht, dass alles gut wird. Dass mir mit Marius an der Seite nichts passieren kann.« In Marius, dachte sie, hatte all die Liebe gesteckt, die seinem Vater und Torben fehlte, so sanft, so achtsam war er gewesen. Zu ihr. Zu seiner kranken Schwester. Nessy wäre jetzt gern losgelaufen, allein, weit weg, durch die Stadt und den Wald, über die Wiesen, immer weiter bis ans Ende der Welt. »Ich bringe Sie zu dem Wohnwagen«, sagte sie.
Später
Ich wäre gern in dem Wohnwagen gestorben. Ein letzter Atemzug der Luft, die geschwängert ist von den Erinnerungen an das süßliche Marihuana, an Alkohol und Sex und die Stapel Bücher, die wir hier gehortet haben. Doch ich konnte es nicht. Ich hätte Rebeccas Qual in den Schmutz gezogen. So habe ich mich auf die Erde gesetzt, vor die Birke.
Den Wohnwagen habe ich mir von meiner ersten Gage gekauft, mit siebzehn. Er ist winzig, und früher war er weiß. Wenn ich jetzt hinübersehe, über die Wiese zu dem Auenwald, ist er grau, wahrscheinlich Schimmel, und das Dach ist voller Algen wie bei den
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