Zeig mir den Tod
haben?«
»Drei Kinder«, flüsterte Assmann.
»Wie bitte?« Er packte Assmann an den Schultern.
Assmann wehrte sich nicht, hob aber den Kopf und blickte Ehrlinspiel an.
Drei
Kinder? War Annika
doch
entführt worden, und dieser Kerl hatte nichts unternommen?
»Ich war nicht da, als es passierte. Ich hätte es wissen müssen.«
»Was wissen? Als was passierte?«
»Als Annika verschwand.« Er schüttelte Ehrlinspiels Hände ab. »Ich hätte wissen müssen, dass ich sie verliere.«
»Warum?«
»Sie war mein Engel. Ich habe sie zu sehr geliebt. Wissen Sie, was das heißt, so zu lieben, dass man sich selbst verliert, wenn der andere nicht mehr da ist?«
Ehrlinspiel starrte ihn an. Die stahlgrauen Augen, die jetzt matt wirkten, und die Falten um die Augen, die trotz des Make-ups tiefer zu sein schienen als noch vor drei Tagen. Assmann war nie über den Verlust von Annika hinweggekommen. Und auch seine anderen beiden Kinder – falls sie seine waren – hatten ihn nie trösten können. »Und Lene?«
»Die habe ich auch geliebt. So gut ich es eben konnte.«
»Hören Sie, in einer Stunde beginnt die Aufführung. Mein Kollege bleibt hier. Eine Kollegin ist in der Villa bei Ihrer Frau. Sie schaffte es nicht hierher. Innerlich. Ich schaue mich draußen um. Der Kerl muss ja irgendwie kontrollieren, ob … Sie seine Forderung erfüllen. Also muss er oder jemand an seiner Stelle hier sein.«
»Wieso? Die Presse wird jedes Wort berichten.«
»Ganz recht. Aber nach aller Erfahrung lässt sich ein Täter das nicht entgehen. Es ist keine Garantie. Aber wenn alles gutgeht – und ich
will,
dass alles gutgeht –, sind Marius und Rebecca in einigen Stunden wieder bei Ihnen.« Damit war der Kommissar aufgestanden. In der Tür hatte er sich noch einmal umgedreht. »Spielen Sie nicht Gott, Herr Assmann!«
»Hi, Ehrlinspiel, schön, Sie zu sehen«, erklang jetzt eine Stimme neben Hanna und ihm, und noch bevor er sich umgedreht hatte, roch er die obligatorische Knoblauch-Bier-Fahne. Er hob die Augen zur Decke und wandte sich dann mit freundlicher Miene um.
Mr. Hair lächelte rund und süß wie eine überreife Honigmelone und hielt ein Mikrofon in der feisten Hand. »Wann und wo wird das Lösegeld übergeben?«
Ehrlinspiel rieb sich über die Nasenwurzel. »Wenn es unter uns bleibt …«
»Yes, natürlich.« Sofort war das Mikrofon direkt vor Ehrlinspiels Mund.
»Da steh ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor«, flüsterte Ehrlinspiel die einzigen Zeilen, die er aus dem Faust kannte.
Für eine Sekunde starrte Mr. Hair ihn ernst an. Dann lachte er laut los. »Der war gut, Ehrlinspiel.«
»Unser Pressesprecher ist auch gut! Sie kennen doch Herrn Habermaß’ Handynummer?« Ironisch zog er den Mundwinkel hoch. Wie Frank Lederle sie angewiesen hatte, würde Edgar Habermaß – ein Meister im Verkaufen von abgelaufener Tiefkühlkost als Drei-Sterne-Delikatesse, wie Ehrlinspiel gern sagte – auf die vertraulichen Ermittlungen verweisen und nur sagen, was er in der gestrigen Pressemitteilung auch schon hatte verlautbaren lassen.
Mr. Hair zog ab.
Edith Berger trat an ein Rednerpult.
»Sie gibt die Einführung zum Faust.« Hanna zog Ehrlinspiel vorn an den Rand der Zuhörer. Von hier konnten sie fast alle Menschen sehen.
»Verehrte Gäste, lieber Jan Winckler, der Sie extra aus Wien angereist sind, lieber Herr Oberbürgermeister Doktor Salomon«, begann die Chefdramaturgin, verlieh ihrer Freude über den bevorstehenden Abend Ausdruck, erzählte von dem Stück und der Interpretation des Gretchenkonfliktes und erklärte, wo sie wie und warum in den Originaltext von Goethe eingegriffen hatte.
Ehrlinspiel hörte nicht zu. Er beobachtete die Menschen, und auch Hannas Aufmerksamkeit galt nicht nur Bergers Worten. Immer wieder musterte sie einen Mann, der etwas abseitsstand, allein, in einer Cordhose, einer Filzjacke und mit grauem Pferdeschwanz. Er fiel auf.
»Ich freue mich mit Ihnen auf die Premiere eines herausragenden Werkes und wünsche einen spannenden Abend mit Günther Assmann, Raphaèl Mestmäcker und dem Faust-Ensemble«, schloss Edith Berger. Applaus setzte ein, und die Menge strömte über die Marmortreppen in das Große Haus.
Hannas und Moritz’ Plätze waren in der elften Reihe rechts, mit perfekter Sicht auf die Schauspieler und die Zuschauer in den vorderen Reihen. Ehrlinspiel klappte die Sitzfläche des roten Samtsessels herunter und überblickte rasch den Raum. Er war bis auf den letzten Platz
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