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Zeig mir den Tod

Zeig mir den Tod

Titel: Zeig mir den Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Busch
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hochkroch, bis in alle Winkel seines Daseins, die er so sorgfältig verschlossen hielt, indem er versuchte, ein anderer zu sein. Ein Hamlet, ein Stadtrat Ammetsberger, ein Faust. Er spielte keine Rollen, er
war
die Rolle. Hatte kein eigenes Ich mehr. Auf diese Weise konnte er fliehen. Deswegen war er auf der Bühne gut. Auch wenn andere besser waren. Aber er hatte es, verdammt noch mal, verdient, ein neues Leben zu beginnen. Ein Leben ohne Abhängigkeiten, ohne Alpträume, ohne eine Frau an der Seite, die nur noch ihre Kinder und das Haus im Kopf hatte und von Kunst so viel verstand wie ein Kulissenschieber vom Feuilletonschreiben. Und die ihn wahrscheinlich jahrelang mit einem oder sogar zwei Kuckuckskindern zum Idioten gemacht hatte.
    Die WC -Spülung im Erdgeschoss rauschte, dann ging wieder eine Tür auf und zu.
    Er setzte sich an seinen Schreibtisch und knipste die kleine Tischlampe mit den Perlenschnüren an, die Lene und er auf einem Flohmarkt erstanden hatten und die viele Jahre neben Annikas Bettchen gestanden hatte. Er tippte dagegen. Leise klackernd schlugen die perlmuttfarbenen Kügelchen aneinander, als wollten sie ihm zuflüstern: Erinnere dich an das Lachen deiner Tochter, an ihr Strahlen, jede von uns winzigen Perlen klingt für eine ihrer Sommersprossen. O ja, daran erinnerte er sich. Jeden Tag. Jede Stunde. Jede Sekunde. Und er erinnerte sich genauso exakt daran, dass Lene nur wenige Wochen nach der Katastrophe wieder schwanger gewesen war. Dabei hatte er nur ein einziges Mal mit ihr geschlafen. In dieser Nacht hatte er ihr dieses verfluchte Versprechen gegeben, für sie da zu sein, was immer auch passierte. Er hatte es versucht, wirklich versucht. Aber er schaffte es nicht. Und jetzt … Er erinnerte sich an Uwes tägliche Besuche. Aus medizinischen Gründen … Lene war im Himmel geschwebt angesichts der neuen Schwangerschaft – er in die Hölle gestürzt. Kein neues Kind würde Annika je ersetzen können.
    Mit zitternden Händen zog er die Schublade auf, legte das Fotoalbum vor sich auf die Tischplatte, blätterte darin. Wollte über Annikas Wange streichen, doch seine Finger erstarrten ein paar Millimeter über ihrem Gesicht in der Luft, als habe er Angst, sie zu verletzen. »Was soll ich nur tun, mein Engel«, flüsterte er und legte die Hand dann auf die Zettel, die unter dem Fotoalbum hervorlugten. Jede Nachricht des Entführers war dort in Günthers steiler Schrift notiert. Doch er kannte längst alles auswendig.
Wer zeugt’ die Lüge; was Du errätst, packst Du in Zeilen, wirst damit auf die Bühne eilen.
    Er zog einen Zettel hervor und schraubte den Deckel des Füllfederhalters ab.
Ich bin betrogen, bin kein Vater. Ich spiele nur ein Scheißtheater,
schrieb er. Schluckte. Strich seine Worte durch. Die Feder kratzte. »Scheiße«, rief er und zerknüllte den Zettel. Nahm einen frischen.
Ich zeugt’ die Lüge, doch nicht diesen Sohn. Bedenkt mich ruhig mit Spott und Hohn,
sah er vor sich die Wörter entstehen, gerade so, als würden sie von fremder Hand geschrieben. Er starrte auf den Zettel, und die Tinte verschwamm vor seinen Augen und in dem Licht, das durch die Perlenschnüre fiel und Hunderte winziger Kreise auf das Blatt malte.
    Draußen schrien die Vögel.
    Falls Du spielst wie alle Tage, so sterben sie – ganz ohne Gnade.
Würden sie wirklich sterben? Und wenn er seine Karriere aufgab, was dann? Er hatte Annika verloren. Er hatte Lene verloren, schon lange. Er hatte seine Kinder verloren – die doch zu seinem Leben gehörten, auch wenn er nie das für sie empfinden konnte, was er für Annika gefühlt hatte. Jetzt wäre auch Edith fort – denn auch ihre Karriere wäre zumindest in den Dreck gezogen. Skandal am Stadttheater! Seine Kollegen würden der Presse mit Freude jede Info ums Maul schmieren: Günthers Ignoranz ihrem Können gegenüber, sein Narzissmus im Job, sein Verhältnis mit Edith.
Rolle erschlafen.
Er sah die Schlagzeilen schon vor sich. Nichts würde ihm bleiben. Lene würde ihn rauswerfen, ihm keinen Cent mehr geben. Neue Engagements könnte er vergessen. Nicht mal als Statist würde ihn noch jemand anheuern.
    Im Erdgeschoss ging Krenz hin und her, gedämpfte Schritte, dann hörte er das Klacken der Kaffeemaschine, die auf Vorheizen gestellt wurde. Günther sah auf die kleine Uhr vor sich. Viertel vor sieben.
    Er schluckte. »Ich kann nicht, ich kann es nicht, mein Engel.« Seine Fingerspitzen zeichneten Annikas Stupsnase nach. Und da sah er Rebeccas Gesicht in

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