Zeig mir den Tod
Magister gar …« Es war wie heute Nacht, Annika wurde zu Rebecca, Rebecca zu Annika, und Marius drängte sich zwischen die Mädchen. »… doch heute muss ich sprechen wahr.«
Schon bei diesem ersten falschen Halbsatz ging ein Murmeln durch die Reihen. »Ich bin betrogen, bin kein Vater. Ich spiele nur ein Scheißtheater«, sagte er mit fester Stimme, und seine nächsten Worte gingen im Tumult unter. »Ich zeugte Lüge, doch keinen Sohn. Bedenkt mich ruhig mit Spott und Hohn.« Edith öffnete den Mund. Winckler hob die Augenbrauen. Da erkannte Günther auch Ehrlinspiel, der nicht weit von ihm aufstand, das Handy am Ohr und die Lippen in Bewegung, sich dann durch die Reihen nach draußen drängte. Gleichzeitig brach ein Blitzlichtgewitter los. Die ersten Zuschauer erhoben sich und riefen Günther etwas zu, doch er hörte nicht, was, agierte wie im Fieber.
Das Rüschenhemd klebte nass auf seiner Haut, er sprach weiter, stellte sich ganz vorn an die Bühne, spürte die Hitze der Scheinwerfer im Gesicht, beschuldigte sich der Schande und sah Rebecca und Annika Hand in Hand über eine Blumenwiese laufen. Er sah Marius, der die Mädchen huckepack nimmt, mit ihnen durch den Park tollt, und er erzählte den anonymen Köpfen vor ihm, dass er ein Versager, ein Lügner und Intrigant ist, schrie es hinaus bis in die letzte Reihe des obersten Ranges, und als Edith auf die Bühne kam und ihn am Arm packte, brach er in schallendes Gelächter aus. Es drang tief aus ihm, aus seinem Innersten, unaufhaltsam, ein irres Sprudeln. »Es ist verloren«, schrie er, »verloren!«
Er riss sich von Edith los, floh die Menschen und Rufe, deren Worte eine einzige Kakophonie waren. Sein Kopf rauschte, als er hinausrannte und die Kollegen zur Seite stieß, er eilte durch die Flure und über Treppen bis in seine Garderobe, vor der noch immer Krenz stand, schloss von innen ab und ließ sich keuchend gegen die Tür sinken. »Verloren.« Er lehnte den Hinterkopf gegen das Glas. »Das ist das Ende.« Er spürte keinen Schmerz. Keine Enttäuschung. Keine Erleichterung. Nur Hölle. Das Gesicht des Wiener Intendanten schwebte wie in einem schlechten Film durch seinen Kopf, verzog sich zu einer gehässigen Fratze, und plötzlich sah er sich wieder beim ersten Vorsprechen in Wien. Garantiert hatte Edith im Hintergrund die Strippen gezogen. Sonst hätten die ihn nie in diesen neubarocken Prachtbau mit den vielen Säulen und dem Stuck eingeladen.
Er steht auf der Bühne, ganz vorn, wie eben, achtet kaum auf die fünfreihigen Balkone, das Rot und Gold des Ambientes. Er sieht nur Winckler an. Und Winckler ihn. Die grauen, viel zu langen Haare hat der Intendant mit einer schwarzen Brille nach hinten geschoben. Sein Mundwinkel zuckt. Schon beim zweiten Monolog von
Richard
III
.
geht das Zucken in ein mitleidiges Lächeln über. »Sie sind gut, Assmann, wirklich gut. Sie haben ein Gefühl fürs Tempo, Sie sprechen perfekte Bögen, aber Ihnen fehlt die Spannung in der Stimme. Zu wenig pastos. Zu sumpfig, das Ganze.« Er nimmt die Brille aus den Haaren und setzt sie auf. Schreibt etwas. »Der Schnack – der fehlt. Verstehen Sie?« Günther versteht nichts. Weiß nicht, was der Schnack sein soll. Winckler schreibt weiter, ohne aufzusehen. »Wenn Sie einmal den Faust geben würden, wenn ich Sie als Genie erleben würde, dann …« Er sieht kurz auf. »Wer ist als Nächstes dran?«, fragt er seine Assistentin und winkt Günther hinaus. Ihm wird übel. Er fährt nach Freiburg zurück, innerlich ausgebrannt. Und doch mit diesem Funken Hoffnung.
Faust.
Jetzt war er der große Mann gewesen. Faust für drei Minuten. Er hatte versagt. Wie immer. Seine Auftritte, seine Liebe, sein Vatersein. Nichts hatte ihn je zu einem Ziel geführt.
Mit zitternden Beinen ging er zu dem Tisch vor dem Schminkspiegel und setzte sich. »Versager«, sagte er zu den wässrigen Augen, die ihm hohl entgegenstarrten. »Versager!« Und da hasste er sich, hasste seine Unzulänglichkeit und seine Tränen, hasste seinen Betrug und seine Schuld, Lene, Edith, Marius, Rebecca und sogar Annika. Seine Faust krachte in den Spiegel, der zerbarst. Seine Hand blutete, und sein Gesicht zersprang in große Scherben, die klirrend zu Boden fielen. Aus ihnen erhob sich die kleine Gestalt. Sie schwebte auf ihn zu und der Engelsstaub glitzerte im Halbdunkel des Zimmers, leuchtete, flimmerte, und Günther roch ihren Kinderduft, hörte ihr fröhliches »Papi«, atmete tief ein, griff nach ihr, fasste ins Leere
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