Zeilen und Tage
welcher Bedenkenlosigkeit Voltaire den klugen Despoten seiner Zeit schmeichelt, der Zarin Katharina, Friedrich dem Großen, dem Kaiser von China Chi-Au Long, 1737-1796, bei dem er das Prinzip der Meritokratie entdeckt haben will.
Verandagrau und Wolkengrau. Der kalifornische Frühling läßt auf sich warten.
Im französischen Restaurant auf der California Street von Palo Alto erlebt der Gast, der gegen 6 pm Platz genommen hat, ein Défilé von Silicon-Valley-Oberschichtpublikum, das seine Anwesenheit zumeist in demonstrativen heterosexuellen Paarauftritten signalisiert, gelegentlich zieht es auch in größeren Gruppen von vernetzten Bedeutungsträgern ein. Daß hier alle Plätze nur aufgrund von Reservierungen vergeben werden, versteht sich von selbst. Die Gäste lassen keinen Zweifel an ihrer Entschlossenheit, ihre Rollen in der Komödie der Gutsituiertheit zu behaupten.
Sepp Gumbrecht berichtet von den Aktualitäten des Lebens auf dem Campus. René Girard hat einen Schlaganfall erlitten, er ist nicht mehr besuchbar. Sara hat Noam geheiratet – was Bohrer zu dem Ausruf veranlaßt haben soll: Wußtest du, daß Sara einen Freund hat? Der Stanford-Star-Gynäkologe X. ist zur Behandlung der Frauen eines arabischen Herrschers hinzugezogen worden.
Bemerkenswert ist, in welchem Ausmaß der psychische Stoffwechsel hier durch den Konsum des Grundnahrungsmittels Bedeutung gesteuert wird. Auch die Sphäre der höheren Dienstleistungen scheint in dieses Netz einbezogen. Andernfalls bliebe beispielsweise unverständlich, wieso mich Sepp beim Besuch eines gehobenen italienischen Restaurants der Wirtin als the most important philosopher of Europe vorstellen sollte.
Wieder der mildkühle Kalifornienmorgen, heute zudem mit einigem Verkehrslärm auf dem Campus, da man die europäische Ostermontagsruhe nicht kennt. Ständiges Brausen von den beiden Flughäfen in der Nähe. Bei meinen Exkursionen mit dem Fahrrad über das weitläufige Gelände kommen mir Studentinnen beim Joggen entgegen. Ballspielende Paare und musikhörende kleine Gruppen sind auf den Grünflächen verstreut. Harmlosigkeit, wohin man sieht, kein guter Ort für deutsche Kritizisten, die gelernt haben, Idyllen in Katastrophenlandschaften umzudeuten.
Aus Amsterdam die gute Nachricht: Rene ist wieder zu Hause auf dem Schiff. Captain Ahab als Peripatetiker mit Krücken.
Für meine erste Präsentation in Gumbrechts ominöser Reading Group bereite ich einige Thesen vor, die aus dem Umfeld meiner Studien zur Babylon -Oper stammen. Ich nutze die Zeitdifferenz zwischen Europa und Kalifornien, die am zweiten Tag sehr spürbar ist, um den weltgeschichtlichen Jetlag nachzuempfinden, der vorzeiten das Weltgefühl der Menschen zwischen Euphrat und Tigris von dem der Menschen am Mittelmeer trennte.
Das Axiom der Überlegungen, heideggerisch gefärbt, besteht in der atmosphärischen Auslegung des In-der-Welt-Seins als mixtum compositum aus Vertrautheit und Unvertrautheit. Solche Komposita bilden die »Mischkrüge«, in denen die ontologischen Stimmungen angesetzt werden. Je näher die Existenz am katastrophischen Pol mitsamt seinen globalen Anmutungen von Befremden und kosmischem Mißtrauen angesiedelt ist, desto mehr Panikfarben gehen in die Grundstimmung ein. Dies ist die basale Tönung des mesopotamischen, von der Sintflut-Zäsur geprägten Daseinsgefühls. Je mehr sich die Stimmung dem »kosmischen« Pol nähert, desto mehr Weltvertrauen und Harmonieglaube nimmt sie in sich auf – so etwa bei den jüdischen Erzählern, die keine eigene Sintfluterinnerungen haben, und bei den späteren Mittelmeervölkern. Auf diese Weise bewegen sich die kulturprägenden Stimmungen, die für die westliche Überlieferung im ganzen bezeichnend sind, zwischen dem mesopotamisch-katastrophistischen und dem mittelmeerisch-harmonistischen Extrem. In ihnen stehen sich die latent antikosmische Skepsis des Orients und der forcierte prokosmische Optimismus des Okzidents gegenüber. Für die erste ist die Weltordnung kaum mehr als eine fragile Hoffnung, für den zweiten geht sie als Urdatum allen anderen Tatsächlichkeiten voraus.
Als ferne Erben des griechischen Weltgefühls haben wir noch immer einige Mühe damit, uns in die Empfindungsweise der älteren Katastrophiker einzufühlen – obschon die Verdüsterungendes 20. Jahrhunderts uns dem mesopotamischen Pol wieder nähergebracht haben. In dieser Position wiederholt man nicht das Rokoko-Bonmot der Madame de Pompadour − »après nous le
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